Wenn die Nato-Partner zusammenkommen, um über die Überflüge russischer Kampfjets über Estland zu beraten, steht eine zentrale Frage im Raum: Werden die USA eine harte Reaktion der Nato erlauben - und etwa eine Warnung eines Abschusses im Wiederholungsfall aussprechen, wie dies der deutsche CDU-Aussenpolitiker Jürgen Hardt fordert? Oder führt die Russland-Politik von US-Präsident Donald Trump dazu, dass die Amerikaner abwiegeln?

Immerhin hatte das Pentagon den baltischen Staaten Anfang September angekündigt, die militärische Unterstützung auslaufen zu lassen. Gibt es gar ein Muster in der US-Aussenpolitik, dass die Supermacht angesichts der Dominanz innenpolitischer Überlegungen in Washington immer wieder Signale aussendet, die autoritären Staaten den Eindruck vermitteln könnten, die USA würden nicht eingreifen?

Im Ukraine-Konflikt ist dies spätestens seit dem Amtsantritt von Trump im Januar ein Dauervorwurf. Bereits im Mai warnte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass «das amerikanische Schweigen» über die russischen Angriffe Moskau ermutige. Im Juli warnte die ukrainische Aussenministerin Mariana Betsa, dass die Beendigung der US-Waffenlieferungen den Aggressor Russland in seiner Haltung nur bestärke, er könne den Kampf gegen die Ukraine gewinnen. «Und seit dem Alaska-Gipfel Trumps mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sehen wir einen deutlichen Anstieg der täglichen russischen Drohnen- und Raketenangriffe auf die Ukraine», kritisiert ein EU-Diplomat.

Der angekündigte Stopp der US-Militärhilfe lässt aus Sicht der baltischen Staaten, die sich als frühere Sowjetrepubliken von Russland massiv bedroht fühlen, nichts Gutes erwarten. Russland habe in Estland die These testen wollen, dass die Nato unter einem US-Oberbefehlhaber in Europa «niemals kinetisch auf eine russische Provokation reagieren wird», schrieb der Aussenpolitik-Experte der «Zeit», Jörg Lau, auf der Plattform Bluesky in Anspielung auf mögliche Abschüsse russischer Kampfjets über Nato-Gebiet. Christian Mölling, Experte des European Policy Centre in Brüssel, äusserte Zweifel, ob die USA oder das russland-freundliche Ungarn einer schärferen Reaktion der Nato überhaupt zustimmen würden.

Wie verlässlich ist die US-Unterstützung unter diesem Präsidenten noch?

Das macht die USA nicht zu einem Unterstützer russischer Angriffe auf die baltischen Staaten. Auch Trump erneuerte auf dem Nato-Gipfel die Zusage, dass der Beistand für die Bündnispartner nach Artikel fünf durch die Supermacht Bestand habe. Aber seine sich ständig ändernden Botschaften haben bei den Europäern nach übereinstimmender Einschätzung vieler EU-Diplomaten nachhaltige Zweifel geweckt, wie verlässlich die US-Unterstützung unter diesem Präsidenten noch ist. Auch die Bundesregierung zeigt sich zunehmend ernüchtert über die Rolle der USA - vom Ukraine-Krieg bis zum Zollstreit.

In einem sind sich die meisten europäischen Regierungen einig: Je stärker Putin das Gefühl hat, dass die Supermacht USA nicht mehr vorbehaltlos an der Seite der europäischen Partner steht, desto verlockender ist es für Russland, Angriffe nicht nur auf die Ukraine, sondern auch auf andere Ziele der früheren Sowjetunion zu planen - also etwa auf die drei baltischen Staaten, die heute EU- und Nato-Mitglieder sind.

Angesichts dieser Bedrohung beschlossen Union, SPD und Grünen, die Schuldenbremse im Grundgesetz so zu ändern, dass es keinen Deckel mehr für Verteidigungsausgaben gibt. Deshalb mahnt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der «Welt am Sonntag»: «Europa muss in Sicherheitsfragen eigenständiger und unabhängiger werden.» Dabei ist die amerikanische Ambiguität in der Aussenpolitik kein neues Muster - sie existierte lange vor Trumps «America first»-Doktrin.

Es gab immer wieder Vorwürfe, dass die USA autokratische Machthaber zu Fehlschlüssen verleiten. Im März 2022 warf etwa der damalige Vorsitzende der Republikaner im Senat, Mitch McConnell, US-Präsident Joe Biden vor, dass es ohne den chaotischen Abzug der USA aus Afghanistan nie einen russischen Einmarsch in der Ukraine gegeben hätte: Putin habe den Eindruck gehabt, dass die USA schwach seien.

Trump wiederum war in seiner ersten Amtszeit vorgeworfen worden, dass er durch Gespräche mit den Taliban den radikalen Islamisten erst die Gewissheit vermittelt habe, dass sie vor einem Sieg in dem zentralasiatischen Land stünden. Zur Stop-and-Go-Politik gehört, dass Trump nun plötzlich wieder davon redet, dass er die früheren US-Basis Bagram wieder haben möchte und man deshalb plötzlich mit der international geächteten Taliban-Führung reden wolle.

US-Präsident Barack Obama wiederum musste sich Vorwürfe anhören, dass sein angeordneter Rückzug der US-Truppen aus Irak erst das Machtvakuum geschaffen habe, in dem die radikal-islamische IS-Miliz im Irak und in Syrien eine Schreckensherrschaft etablieren konnte. Und 1990 wurde der damaligen US-Botschafterin in Bagdad vorgeworfen, sie habe Saddam Hussein fälschlicherweise den Eindruck vermittelt, die Supermacht würde einer Invasion des Irak in Kuwait tatenlos zusehen.

Als selbsternannter Meister im «Deal-Making» hatte Trump nach Angaben von EU-Diplomaten schon früher betont, dass er Ambiguität auch in der Aussenpolitik für eine wichtige Taktik halte - weil das Gegenüber nicht wisse, wie er letztlich reagieren werde. Dies widerspricht aber der auch deutschen Haltung, dass man gegenüber Russland klare Ansagen machen müsse, wo rote Linien etwa für den Einsatz von Gewalt in Europa sind. Im Falle des Vorfalls über Estland beliess es Trump jedoch bisher bei der vagen Aussage: «Das könnte grossen Ärger geben.»

(Reuters)