Der Ölmarkt erlebte in den letzten Monaten eine doppelte Krise: Einerseits setzte die Corona-Krise dem Ölpreis mittels dem Nachfragerückgang zu. Andererseits entbrannte ein regelrechter Preiskrieg zwischen Saudi-Arabien und Russland. Auch dessen Beendigung konnte nicht verhindern, dass der Ölmarkt Ende April in ein "Paralleluniversum" abrutschte: Die Öl-Futures für den Mai rutschten unter den Wert von Null Dollar.

Seit dann hat der Ölpreis eine fulminante Erholung eingelegt. Der Erdölpreis der Sorte Brent stieg um 159 Prozent auf über 40 Dollar pro Barrel. Im Mai konnte mit Hilfe der OPEC-Förderkürzung die Ölförderung um 10 Prozent reduziert werden. Anfang Juni kam stützend hinzu, dass die OPEC mit ihren kooperierenden Staaten eine Fortsetzung der Förderkürzung bis Ende Juli vereinbarten.

Brent-Ölpreisentwicklung seit Januar 2018 (Quelle: Bloomberg).

Trotzdem: Die Corona-Krise hinterlässt auf dem Ölmarkt 2020 deutlich seine Spuren.  cash hat beim Norbert Rücker, Erdölexperte bei Julius Bär, nachgefragt, wie der momentane Zustand des Erdölmarkts ist.

cash.ch: Die Ölpreise haben sich seit ihrem Tief Ende April deutlich erholt. Welches sind die Hauptgründe?

Norbert Rücker: Im April waren die Sorgen auf dem Ölmarkt vorherrschend, dass die Öllager wegen der schwachen Nachfrage anschwellen und eine Situation eintritt, wo nicht genug Lagerkapazität vorhanden ist. Man befürchtete, dass der Ölmarkt im wahrsten Sinne des Worts überläuft. Diese Ängste haben sich verflüchtigt. 

Zwei Gründe sind hierfür verantwortlich. Zum einen wurde das Angebot relativ schnell zurückgefahren. Dies hat man vor allem aus den USA erwartet, da die tiefen Preise, die Produzenten zur Förderdrosselung gezwungen haben. Was man nicht erwartet hat, ist das die Erdölstaaten dermassen glaubwürdig, drastisch und stark ihre Produktion zurückfahren würden. Der Hauptgrund ist jedoch, dass die Nachfrage schneller als erwartet zurückgekommen ist. Hierbei hat man zuerst auf China geschaut. Dabei wurde der Traffic-Indikator betrachtet. Man sah eine Rückkehr des Verkehrs auf den Strassen und die sehr schnelle Wiederaufnahme der Raffinerieaktivitäten. Einen ähnlichen Trend kann man jetzt auch in Europa und Nordamerika verfolgen. Man beobachtet Staus auf den Strassen und die Erholung der Ölnachfrage der Strasse. 

Wird sich die Erholung in den nächsten Monaten fortsetzen?

Es ist unsere Erwartung, dass sich diese Trends der Nachfrageerholung fortsetzen werden. Gleichzeitig hat man auf der Angebotsseite die nordamerikanische Schieferölindustrie, die ihre Bohraktivitäten stillgelegt hat. Dies führt mit einer Verzögerung dazu, dass die Produktion länger zurückgehen wird. Wir rechnen mit einem Rückgang der nordamerikanischen Schieferölproduktion bis ins nächste Jahr hinein. Dies führt dazu, dass man jetzt die eigentlichen Spitzen an Erdöllagerbeständen hat. Man muss davon ausgehen, dass sich die Lagerbestände in den nächsten Monaten normalisieren und auf die durchschnittlichen fünf-Jahres-Werte zurückgehen. Dies ist fundamental immer ein Hinweis, dass man eine gewisse Stärke im Erdölpreis sehen wird.

Welche Rolle spielt der schwächer werdende Dollar bei ihrer Prognose?

Dieser spielt hinein. Wobei man sagen muss, dass sich beim Öl die Korrelation oft andersrum verhält. Der Ölpreis beeinflusst den Dollar. Der Einfluss des Dollars auf unsere Preisprognosen ist nicht massiv.

Was sind in ihrem Modell die entscheidenden Preistreiber?

Bei uns stehen die Fundamentalen Daten im Vordergrund. Dass sich das Überangebot an Erdöl abbaut und dies Rückenwind für weiter steigende Preise gibt. Ein anderes wichtiges Element ist die Marktstimmung. Die Stimmungsschwankung an den Märkten vom Pessimismus hin zum Optimismus hat den Erdölpreis befeuert. Je nachdem welche Ölsorte man betrachtet, ist hier noch Potenzial vorhanden. Bei Brent sehen wir eine Möglichkeit zur weiteren Stimmungsaufhellung. Beim US-Benchmark WTI ist dies weniger der Fall. Generell denken wir, dass die Stimmungsaufhellung die Preise noch weiter anheben kann.

Was ist das grösste Risiko für einen erneuten Einbruch?

Das grösste Risiko ist nicht eine zweite Welle an sich, sondern die politische Reaktion in Form eines erneuten Lockdowns darauf. Jedoch könnte eine eintretende zweite Welle auch die Finanzmärkte verunsichern. Dies sahen wir in den letzten Tagen und brachte auch den Ölpreis unter Druck oder beendete zumindest die Aufwärtsbewegung. Doch auch wenn sich diese Entwicklung fortsetzen sollte, erscheint uns ein Erreichen des Preisniveaus vom April unwahrscheinlich.

Wo steht der Ölpreis Ende 2020?

Wir sehen den Ölpreis der Sorte Brent in drei Monaten bei 45 Dollar. Auf zwölf Monate sehen wir den Ölpreis bei 50 Dollar. Sprich gegen das Jahresende gehen wir von einer Tendenz in Richtung 50 Dollar aus.

Vom Ölpreis direkt betroffen sind die Erdölförderer. Sehen sie bei den Erdölaktien noch potenzial?

Ein steigender Erdölpreis ist tendenziell positiv für die Performance von Erdölaktien. Immer wenn der Erdölpreis steigt, bewegen sich diese Titel mit. Ein gewisser Teil ist jetzt schon vorweggenommen. Doch es sollte sich ein Umfeld aufbauen, das positiv für diese Aktien ist. Dies hat einen einfachen fundamentalen Grund. Ob der Erdölpreis bei 40, unter 40 oder gegen 50 Dollar geht, macht für viele dieser Firmen finanziell ein sehr grosser Unterschied. Wir prognostizieren daher ein Umfeld, wo diese Unternehmen wieder profitabel und solider arbeiten können. Sollte es einen Rücksetzer beim Erdölpreis geben, werden diese Titel aber auch stärker korrigieren.

Norbert Rücker ist Leiter des Economics & Next Generation Teams bei der Bank Julius Bör. Seine Expertise umfasst Rohstoffe und Energiemärkte. Darüber hinaus konzentriert er sich im Rahmen des Next Generation Thought Leadership auf die strukturellen Veränderungen in der Energiewelt, insbesondere die Auswirkungen auf die Mobilität. Norbert Rücker ist Mitglied des Responsible Investment Committee von Julius Bör. Nach dem Abschluss seines Wirtschaftsstudiums an der Universität Zürich trat er 2006 ins Research ein. Er begann als Aktienanalyst mit den Schwerpunkten Erneuerbare Energien sowie Öl und Gas und hat sich dank persönlichem Interesse und Universitätsstudium fundierte Kenntnisse in diesem Bereich angeeignet. Neben dem Bankgeschäft engagiert er sich in einem Verband für die Schweizer Energiewirtschaft und in einer Stiftung für den Schutz der Afrikanischen Tierwelt.

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