Das Ringen der Europäer um die weitere Finanzierung des ukrainischen Abwehrkampfes gegen Russland geht in die Endphase. Bis zum EU-Gipfel am 18. und 19. Dezember will Bundeskanzler Friedrich Merz eine positive Entscheidung über die Nutzung des eingefrorenen russischen Staatsvermögens in der EU für die Ukraine erreicht haben. Und die EU ist in den vergangenen Tagen nach Angaben von EU-Diplomaten entscheidend vorangekommen. So erhebe Belgien zwar immer noch Forderungen, wolle den Weg eines sogenannten Reparations-Kredits an die Ukraine aber nicht mehr blockieren, hiess es.

Um wie viel Geld geht es?

In der EU liegen Hunderte Milliarden Euro russischen Staatsvermögens, vor allem in Belgien bei dem dort ansässigen Finanzdienstleister Euroclear. Das Geld wurde nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 eingefroren. In der Debatte schwankt die genannte Höhe dieses Vermögens zwischen 200 und 250 Milliarden Euro. Einig scheint man sich zu sein, dass mittlerweile etwa 210 Milliarden Euro in bar bei Euroclear liegen, weil die Laufzeit ihrer Anlageformen abgelaufen ist.

Bisher werden nur Erträge - etwa Zinszahlungen - aus den russischen Geldanlagen dafür verwendet, um einen 50 Milliarden-Euro-Kredit an die Ukraine zu finanzieren, aber nicht das Geld selbst. Deshalb soll ein Teil der Summe dafür reserviert bleiben, diesen Kredit abzulösen. Dazu soll aber - zumindest nach Vorstellung der Bundesregierung und der EU-Kommission - auch eingefrorenes russisches Staatsvermögen kommen, das in anderen EU-Staaten und dort auf Geschäftsbanken liegt. Deshalb hatte Kanzler Merz in einem Gastbeitrag der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» von 165 Milliarden Euro für die Ukraine gesprochen. Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, zunächst mit 90 Milliarden Euro zu beginnen, weil die Ukraine nicht sofort das ganze Geld brauche.

Warum beginnt die Debatte jetzt?

Deutschland hatte lange sehr reserviert auf Vorschläge zur Nutzung des eingefrorenen russischen Geldes für die Ukraine reagiert. Zum einen gab es Bedenken, dass der Finanzstandort EU leiden könnte, wenn ausländische Regierungen fürchten müssen, dass ihr Geld konfisziert wird. Zum anderen wollte man das Geld als Druckmittel gegen die russische Regierung nutzen, wenn es um einen Friedensschluss und den Wiederaufbau der Ukraine geht.

Jetzt hat die Bundesregierung ihre Position geändert - aus der Not heraus. Zum einen haben die USA unter Präsident Donald Trump ihre Hilfe für die Ukraine weitgehend gestoppt. Zum anderen haben die meisten grossen überschuldeten EU-Staaten keine Möglichkeit, höhere Militärhilfe für die Ukraine aus ihren nationalen Haushalten zu zahlen. Die Bundesregierung hat Sorge, dass Deutschland als der mittlerweile grösste Unterstützer der Ukraine ohne diesen Weg sehr viel mehr nationales Geld bereitstellen müsste. Russland soll zugleich gezeigt werden, dass die Europäer die Ukraine auch in den nächsten Jahren finanziell stützen.

Wie sollen die Milliarden Devisen aktiviert werden?

Die EU-Kommission und die Bundesregierung haben ein kompliziertes Verfahren vorgeschlagen: Euroclear überweist das Geld an die EU-Kommission und erhält von dieser EU-Anleihen. Der Ukraine wiederum werden die Milliarden als zinslose Kredite gegeben. Diese soll das Land erst dann zurückzahlen, wenn Russland am Ende des Krieges - wie erhofft - Reparationen zahlt. Weil aber unklar ist, ob diese Rückzahlung möglich sein wird und weil auf jeden Fall eine Enteignung Russlands vermieden werden soll, sollen die 27 EU-Staaten die EU-Anleihen aus ihren nationalen Haushalten mit Garantien absichern. Das heisst, sie müssten einspringen, wenn das Geld nicht zurückgezahlt würde.

Sollten tatsächlich 210 Milliarden Euro genutzt werden, dann kämen auf Deutschland Garantien in Höhe von rund 50 Milliarden Euro zu. Kanzler Merz hat die Spitzen der Regierungsfraktionen bereits darüber informiert. Nötig wäre wahrscheinlich ein Beschluss des Bundestages.

Wofür soll das Geld verwendet werden?

Die Bundesregierung besteht darauf, dass die Milliarden vor allem für das Militär der Ukraine ausgegeben werden sollen. Es geht um ein politisches Signal an die Führung in Moskau: Präsident Wladimir Putin müsse trotz einiger Geländegewinne begreifen, dass er den Krieg mit der Ukraine nicht einfach «aussitzen» oder auf einen Sieg hoffen könne, heisst es. Der militärische Finanzbedarf der Ukraine wird auf 50 bis 70 Milliarden Euro jährlich geschätzt - und wäre auch nach einem Waffenstillstand noch hoch. Mit dieser Hilfe könnte das Land also zwei, drei Jahre ohne Sorgen um eine Finanzierung des Militärs weiterkämpfen.

Wo gibt es noch Widerstand in der EU?

Belgiens Ministerpräsident Bart De Wever hat immer wieder Garantien gefordert, damit sein Land nicht alle Risiken trägt, weil Euroclear in Belgien sitzt. Alle EU-Mitglieder müssten ihren Beitrag leisten, falls das Geld zurückgezahlt werden müsse oder Sanktionen gegen Belgien erhoben würden. Zudem müsse jedes Land, das russische Vermögenswerte eingefroren habe, im gleichen Tempo voranschreiten. Diese Forderung teilt die Bundesregierung. Die Rechtsbedenken Belgiens scheinen trotz einer angedrohten Klage Russlands gegen Euroclear nach Angaben europäischer Diplomaten weitgehend ausgeräumt zu sein. Die Entscheidung soll mit qualifizierter Mehrheit fallen, weil Ungarn und die Slowakei wohl nicht zustimmen werden.

Was machen die USA?

Merz betont, dass die Friedensbemühungen von Trump keinen Einfluss auf die Planungen haben. Zum einen sitzt der Zweifel tief, dass Putin überhaupt einen Waffenstillstand akzeptieren würde. Zum anderen betonte Merz kürzlich erneut, dass dies eine europäische Angelegenheit sei. Die Ukraine müsse auf jeden Fall weiter finanziert werden. Im ursprünglichen 28-Punkte-Plan der US-Regierung erhoben aber auch die USA Anspruch auf die eingefrorenen russischen Gelder.

«Ich sehe keine Möglichkeit, in irgendeiner Form ökonomisch das Geld, das wir dann mobilisieren, den Vereinigten Staaten von Amerika zukommen zu lassen. Und das weiss die amerikanische Regierung», stellte Merz klar. Die US-Regierung droht den Europäern trotzdem, weil der Plan angeblich die eigenen Bemühungen um einen «Deal» unterlaufen würde. Die USA sind im westlichen Lager mit ihren Versuchen für Sonderabsprachen mit Russland aber isoliert, was sich auch auf dem letzten G20-Gipfel zeigte.

Was kann Russland tun?

Die russische Regierung hat immer wieder mit Gegenmassnahmen gegen Personen und Länder gedroht, sollte die EU die eingefrorenen Milliarden nutzen. Nun hat sie eine Klage angekündigt. Aber die Drohungen haben nur begrenzte Wirkung. Die Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zwischen Russland und der EU sind bereits drastisch zurückgefahren worden, sodass es dort für Moskau kaum noch einen Hebel für Bestrafungen gibt - was allerdings von EU-Land zu EU-Land unterschiedlich ist. Einreisesperren sind wirkungslos, weil kaum jemand Reisen nach Moskau plant oder dort noch Vermögen deponiert hat.

Aber es gibt auch andere Drohungen: Der belgische Ministerpräsident De Wever sagte, dass der Chef des Finanzinstituts Euroclear rund um die Uhr unter Polizeischutz stehe. Dmitri Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates und Hardliner in Moskau, droht der EU zudem offen mit Krieg - allerdings nicht zum ersten Mal.

(Reuters)