«Politische Turbulenzen sind das neue Normal und Anleger schauen mehr und mehr darüber hinweg», sagte Jason Paltrowitz, stellvertretender Geschäftsführer der US-Handelsplattform OTC Markets. Der überraschende Rücktritt des französischen Ministerpräsidenten Sebastien Lecornu am Montag «dürfte das erneute Interesse amerikanischer Anleger an europäischen Aktien insgesamt kaum schmälern.» Europäische Aktien seien im Vergleich zu den US-Titeln günstiger bewertet und breiter aufgestellt. Ausserdem machten die wichtigsten Konzerne im Pariser Leitindex einen Grossteil ihrer Geschäfte im Ausland, sagte RoboMarkets-Stratege Jürgen Molnar.
Nach den Worten von Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP Bank, hielten sich die Reaktionen an den Finanzmärkten in Grenzen. Der Euro habe mit moderaten Abwertungen reagiert, die Risikoaufschläge auf französische Staatsanleihen seien leicht gestiegen. «Letztlich zieht man an den Finanzmärkten instabile politische Verhältnisse ins Kalkül», sagte Gitzel. Chris Beauchamp vom Broker IG äusserte sich vorsichtiger und warnte vor einer schwierigen Phase für europäische Anlagen. Die Lage in Frankreich erhöhe die Vorsicht der internationalen Investoren gegenüber der gesamten Region.
Schon am Montagnachmittag, wenige Stunden nach Lecornus Rücktritt, hatten sich die Märkte stabilisiert: Der Pariser Leitindex Cac 40, der zunächst mehr als zwei Prozent ins Minus gerutscht war, schloss nur noch 1,4 Prozent im Minus. Am Dienstag lag er schon wieder 0,3 Prozent im Plus. Auch der französische Rentenmarkt beruhigte sich wieder: Die Rendite zehnjähriger Staatsanleihen rückte im Gegenzug zum etwas schwächeren Kurs auf 3,5839 Prozent vor, nachdem sie am Montag deutlich stärker auf 3,5709 Prozent gestiegen war.
«Politisch brisant, aber ökonomisch berechenbar»
Wie es in Frankreich nun weitergeht, ist unklar. Am Dienstag wurden die Rufe nach einem Rücktritt von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron lauter. Lecornu soll nun in einem letzten Anlauf Gespräche mit anderen Parteien führen, um einen Weg zur Stabilisierung des Landes zu entwickeln.
Anleger setzten darauf, dass die Europäische Zentralbank (EZB) und die EU im Ernstfall stabilisierend eingreifen würden, erläuterte Experte Molnar. Bislang haben die Probleme Frankreichs die EZB nicht auf den Plan gerufen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde verwies am Montagabend darauf, dass man «unterschiedliche Instrumente» im Werkzeugkasten habe. Diese würden angewendet, wenn bestimmte Bedingungen gegeben und Kriterien erfüllt seien: «Darüber haben wir aber jetzt in letzter Zeit im EZB-Rat nicht diskutiert», betonte sie. Die EZB hat mit dem Transmission Protection Instrument (TPI) ein Notprogramm in der Hinterhand, mit dem sie theoretisch unbegrenzt Staatsanleihen eines in Bedrängnis geratenen Euro-Landes kaufen kann.
Timo Emden vom Analysehaus Emden Research bringt die Einschätzung des Marktes so auf den Punkt: «Solange die Krise keine konkreten negativen Folgen für die Eurozone nach sich zieht, dürften die Entwicklungen lediglich politisch brisant bleiben, aber ökonomisch berechenbar.»
(Reuters)