«Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehe ich keinen Grund, den geldpolitischen Kurs in irgendeiner Richtung anzupassen», sagte die deutsche Volkswirtin in einem am Dienstag veröffentlichten Interview der Nachrichtenagentur Reuters. Die Zinssätze befänden sich auf einem guten Niveau, die mittelfristige Inflationsrate werde auf rund zwei Prozent vorhergesagt, und die Inflationserwartungen seien gut in der Spur. «Wir sind bei der Vollbeschäftigung, und die Wirtschaft wächst um den Trend herum,» führte sie aus.
Schnabel zufolge, die im sechsköpfigen Führungsteam der Europäischen Zentralbank (EZB) sitzt, muss sich die Euro-Notenbank dazu positionieren, wo sie in Bezug auf die Zinssätze stehe. «Ich glaube, wir könnten bereits leicht akkommodierend sein, und daher sehe ich keinen Grund für eine weitere Zinssenkung in der gegenwärtigen Situation», sagte sie. Geldpolitik gilt dann als 'akkommodierend', wenn sie eine Volkswirtschaft antreibt.
Nach einer Serie von zuletzt sieben Zinssenkungen in Folge hatte die EZB im Juli eine Pause eingelegt und den Einlagesatz - das ist der Leitzins im Euroraum - bei 2,0 Prozent belassen. Die Inflation in der 20-Länder-Gemeinschaft lag im Juli ebenfalls bei 2,0 Prozent und damit auf der Zielmarke der Währungshüter, die sie als optimal für die Wirtschaft erachten. Noch im Herbst 2022 hatte die Rate im Zuge des Ukraine-Kriegs und der Energiekrise bei über zehn Prozent gelegen. Für die kommende Zinsentscheidung der EZB am 11. September gilt am Finanzmarkt gegenwärtig eine erneute Pause als fast schon sichere Sache.
«Wir achten weiterhin auf neue Entwicklungen», sagte Schnabel. Mit jedem neuen Datenpunkt lerne die EZB etwas dazu. «Und wenn es Nachrichten gäbe, die meine Einschätzung der mittelfristigen Preisstabilität grundlegend ändern würden, könnte dies ein Grund sein, den geldpolitischen Kurs anzupassen,» führte sie aus. Aber derzeit sehe sie das nicht. «Im Gegenteil, die Wirtschaft im Euroraum hat sich trotz der Zölle widerstandsfähiger gezeigt als erwartet.»
Zölle könnten Inflation anfachen
Mit Blick auf die Zeit nach September sei es wichtig anzuerkennen, dass die Notenbank die Inflation in einer krisenanfälligen Welt nicht so feinabstimmen könne, dass sie immer bei zwei Prozent liege, sagte die EZB-Direktorin. «Das bedeutet, dass die EZB nur auf erhebliche und anhaltende Abweichungen der Inflation vom Zielwert reagieren sollte, die die Inflationserwartungen zu destabilisieren drohen und daher die mittelfristige Preisstabilität in Frage stellen.» Moderate Abweichungen der Inflation vom Zielwert in beide Richtungen könnten toleriert werden. Ihre Auffassung: «Daher, solange es keine grösseren Schocks gibt, sehe ich keinen Grund, den geldpolitischen Kurs anzupassen.»
Schnabel ist der Auffassung, dass die von der Trump-Regierung verhängten Handelszölle unter dem Strich die Inflation anfachen könnten - selbst ohne Vergeltungsmassnahmen seitens der Europäischen Union. Zölle wirkten insgesamt inflationär, sagte sie. Sollte es aufgrund der Zölle weltweit zu einem Anstieg der Inputpreise kommen und sich dies über globale Produktionsnetzwerke ausbreiten, werde das überall zu einem Anstieg des Inflationsdrucks führen. Für Schnabel ist das Risiko höher, dass die Inflation im Vergleich zu den Erwartungen kräftiger ausfallen könnte als dass die Teuerung im Vergleich dazu geringer sein werde.
Die Zeit für Zinserhöhungen der Notenbanken könnte Schnabel zufolge sogar schneller zurückkehren als gedacht. «Eine stärker fragmentierte Welt mit einem weniger elastischen globalen Angebot, höheren Staatsausgaben und alternden Gesellschaften ist eine Welt mit höherer Inflation», sagte sie. «Daher glaube ich, dass der Zeitpunkt, an dem die Zentralbanken weltweit wieder mit Zinserhöhungen beginnen, früher kommen könnte, als viele gegenwärtig denken.»
(Reuters)