Auf diesem Weg könne bis zum Jahresende ein Zinsniveau erreicht werden, das die Konjunktur nicht mehr anschiebe, sagte das Ratsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB) im Interview der Nachrichtenagentur Reuters. "Es gibt ein Argument dafür, eine Entscheidung über eine weitere signifikante Zinserhöhung zu fällen, sei es um 75 oder um 50 Basispunkte oder etwas anderes", sagte Rehn. Was "etwas anderes" bedeuten könnte, führte er allerdings nicht aus.

Die Währungshüter hatten im Juli die Zinswende eingeleitet und dabei die Schlüsselsätze erstmals seit 2011 nach oben gesetzt. Die Leitzinsen wurden um 0,50 Prozentpunkte angehoben. Bei ihrem zweiten Zinsschritt im September legten sie mit 0,75 Basispunkten noch deutlicher nach. Der Leitzins liegt damit inzwischen bei 1,25 Prozent und der sogenannte Einlagensatz, der aktuell der maßgebliche Zinssatz an den Finanzmärkten ist, bei 0,75 Prozent.

"Bis Anfang dieses Jahres war ich für ein graduelles Vorgehen, aber jetzt gibt es ein stärkeres Argument für Frontloading und entschlossenes Handeln", führte Rehn aus. Unter "Frontloading" wird in der Zentralbankwelt ein Vorziehen von kräftigen Zinserhöhungen bezeichnet, was es Währungshütern ermöglicht, danach etwas gemäßigter vorzugehen. EZB-Chefin Christine Lagarde hatte bereits weitere Zinsschritte in Aussicht gestellt. Die nächste Zinssitzung der EZB ist am 27. Oktober. "Meiner Ansicht nach bewegen wir uns in den Bereich des neutralen Zinses bis Weihnachten", sagte Rehn. So wird ein Zinsniveau bezeichnet, das die Wirtschaft weder bremst noch anheizt.

Rehn zufolge muss die EZB womöglich über den neutralen Satz hinaus die Zinsen erhöhen. "Sobald wir dort angekommen sind, werden wir sehen, ob es ein Argument dafür gibt, uns in einen restriktiven Bereich zu bewegen", sagte er. "Wenn wir glauben, dass die Inflationsaussichten, einen Schritt in Richtung eines restriktiven Bereichs erfordern, dann sei es so." An den Finanzmärkten wird derzeit das neutrale Zinsniveau beim Einlagensatz zwischen 1,5 und 2,00 Prozent gesehen. Dort wird inzwischen ein Zinsanstieg auf um die drei Prozent im nächsten Frühling für möglich gehalten.

Rehn ist nicht der Ansicht, dass die langfristigen Inflationserwartungen angesichts der Rekordinflation aus dem Ruder laufen. Diese lägen im Großen in Ganzen in dem Bereich, der mit dem Inflationsziel der Währungshüter von zwei Prozent übereinstimme. Es gebe derzeit kein kräftiges Lohnwachstum, eine Vorrausetzung für einen dauerhaften Preisschub, führte er aus. "Der Treiber ist offensichtlich Energie."

Wie schon Lagarde sprach sich auch Rehn dafür aus, sich die Vergütung von Reserven der Banken anzuschauen. Nach der Abkehr von den Strafzinsen und der Erhöhung des Einlagensatzes auf 0,75 Prozent winken den Instituten inzwischen Milliarden an risikolosen Extragewinnen aus den ohnehin schon extrem vorteilhaften langfristigen TLTRO-Kreditspritzen der Währungshüter. Dazu müssen sie die Gelder lediglich bei der Notenbank bis zum Auslaufen dieser Programms parken. Die Konditionen für Banken seien ziemlich günstig, sagte Rehn. "Ich würde mich dafür einsetzen, diese Sache zu prüfen", merkte er an. 

(Reuters)