Zwar erwarten die meisten Volkswirte, dass die Währungshüter um Notenbankchefin Christine Lagarde auf der Zinssitzung am Donnerstag in Frankfurt wie auf den vier geldpolitischen Treffen zuvor die Zinsen konstant halten werden. Doch auf der darauffolgenden Juni-Zinssitzung könnte die EZB aus Sicht der Experten erstmals wieder die Schlüsselsätze nach unten setzen. Entsprechende Andeutungen und Signale in diese Richtung werden von der Euro-Notenbank erhofft. Am Finanzmarkt gilt bereits eine Zinssenkung auf dem EZB-Treffen am 6. Juni als sehr wahrscheinlich.

«Insgesamt sieht die EZB-Sitzung in der nächsten Woche wie das Vorspiel zu einem weiteren Wendepunkt für die Geldpolitik im Euroraum aus: Der letzte Halt vor der Zinssenkung», meint Chefvolkswirt Carsten Brzeski vom Bankhaus ING. «Wir gehen davon aus, dass die EZB in der nächsten Woche noch abwartet und die Börsen weiter auf eine erste Zinssenkung im Juni vorbereitet.» Damit würde die EZB am Donnerstag den am Finanzmarkt richtungsweisenden Einlagensatz, den Geldhäuser erhalten, wenn sie bei der Notenbank überschüssige Gelder parken, bei 4,00 Prozent belassen - das höchste Niveau seit dem Start der Währungsunion 1999. Und der Leitzins dürfte bei 4,50 Prozent bleiben.

Aus Sicht des Europa-Chefvolkswirts der US-Bank Morgan Stanley, Jens Eisenschmidt, könnte die EZB bereits in ihrer Mitteilung zum Zinsbeschluss subtile Andeutungen auf eine bevorstehende Kursänderung geben. Zentral für den Experten und sein Team ist aber der anschliessende Auftritt von Lagarde vor Journalisten. «Die Pressekonferenz ist der Ort für eine offenere Sprache,» schreiben sie in ihrer EZB-Vorschau. «Wir erwarten, dass die Präsidentin die Einschätzung des EZB-Rats klar vermittelt, dass die Zinsen im Juni gesenkt werden könnten.»

Ein erster Schritt nach unten bereits am Donnerstag gilt dagegen als äusserst unwahrscheinlich, auch wenn für den Monat März die Daten zur Inflation sowie zur Kerninflation, bei der schwankungsanfällige Preise ausgeklammert bleiben, besser ausfielen als erwartet worden war. Nach Einschätzung der Volkswirte der Deutschen Bank war der Inflationsrückgang im März nicht kräftig genug, um Vertreter einer straffen Geldpolitik im EZB-Rat dazu zu bewegen, schon kommende Woche einer Zinssenkung zuzustimmen. «Vielmehr ist das ein Beleg dafür, dass die EZB einen holprigeren Pfad des Abebbens der Inflation erwartet,» schreiben Deutsche Bank-Chefökonom Mark Wall und sein Expertenteam in einer Studie.

Die Verbraucherpreise legten in der 20-Länder-Gemeinschaft im März nur noch um 2,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat zu. Erwartet worden war hingegen eine Rate wie im Februar von 2,6 Prozent. Für die EZB rückt damit ihr Ziel von 2,0 Prozent immer näher. Auch die Kerninflation, in der die schwankungsanfälligen Energie- und Lebensmittelpreise sowie Alkohol und Tabak ausgeklammert bleiben, nahm ab. Sie ging auf 2,9 Prozent zurück nach 3,1 Prozent im Februar. Auch hier hatten Volkswirte einen geringeren Rückgang auf 3,0 Prozent erwartet.

Lohndaten und neue Projektionen abwarten

Commerzbank-Volkswirt Marco Wagner rechnet damit, dass Lagarde & Co für einen ersten Schritt nach unten erst noch weitere Daten zur Lohnentwicklung im Euroraum sowie die neuen Konjunktur- und Inflationsprognosen der Notenbank-Volkswirte abwarten wollen, die zur Juni-Sitzung vorliegen werden. «Hinzu kommt, dass Märkte wie Analysten eine erste Zinssenkung im Juni erwarten», erläutert Wagner. «Und weshalb sollten die Notenbanker die Märkte mit einem früheren Zinsschritt überraschen?» fügte er hinzu.

In der jüngsten Zins-Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters unter Ökonomen war Ende März keiner der Teilnehmer von einer Zinssenkung am Donnerstag ausgegangen. Mehr als 88 Prozent - 68 der 77 befragten Volkswirte - rechneten dagegen mit dem ersten Schritt nach unten im Juni. Die Futures-Kurse am Geldmarkt vermitteln ein ähnliches Bild. Aus ihnen geht aktuell hervor, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schritts nach unten am Donnerstag mit nur neun Prozent taxiert wird. Zum Vergleich: Für eine Senkung im Juni sind es 94 Prozent.

(Reuters)