cash.ch: Der Konsensus der Ökonomen geht davon aus, dass die Schweizerische Nationalbank (SNB) an ihrer nächsten Sitzung am 22. Juni um 25 Basispunkte erhöhen wird. Sie erwarten einen Anstieg von 50 Basispunkten. Warum ein so starke Erhöhung?

Thomas Stucki: Es gibt verschiedene Argumente, die dafür sprechen. Erstens ist die Inflation in der Schweiz immer noch zu hoch. Insofern ist eine Zinserhöhung notwendig. Zweitens sind die Zinsen in der Schweiz mit einem Leitzinssatz von 1,50 Prozent immer noch tief und die Wirtschaft kann problemlos einen Satz von 2 Prozent verkraften. Grundsätzlich wäre hierbei denkbar, dass die SNB die Leitzinsen im Juni und September um je 0,25 Prozentpunkte erhöhen würde. Der Hauptgrund für den grösseren Zinsschritt dürfte aber sein, dass die SNB im Gegensatz zur amerikanischen Notenbank Fed oder der Europäischen Zentralbank (EZB) nur alle drei Monate einen Zinsentscheid trifft. Dieses Zeitfenster von drei Monaten ist zu lang. 

Die Fed hat am Mittwoch kommuniziert, dass noch zwei weitere Zinserhöhungen möglich sind. Die EZB hat am Donnerstag den Leitzins um 0,25 Prozentpunkte angehoben und dürfte den gleichen Schritt im Juli wiederholen. Ist der Zinspeak global erreicht?

Ob die Fed die Zinsen tatsächlich noch erhöhen wird, wird sich zeigen müssen. Gerade darin liegt ein Dilemma für die Schweizerische Nationalbank, weshalb nun eine stärkere Erhöhung auf 2,0 Prozent erfolgen wird. Sollte die US-Notenbank die Zinsen nämlich nicht mehr erhöhen, so dürfte es auch für die Schweizer Währungshüter schwieriger werden, die Zinsen im Herbst sozusagen verspätet noch einmal nach oben anzupassen. Deshalb ist dieser grössere Schritt jetzt sinnvoll. 

Bleiben die Zinsen hoch, weil die Teuerung trotz schwächerer Konjunktur über dem definierten Zielwert von 2 Prozent liegt?

Man muss sich vor Augen führen, dass es einen Moment dauert, bis Zinserhöhungen in der realen Wirtschaft ankommen. Dies dauert im Normalfall mehrere Monate, weshalb die Zinserhöhungen aus dem letzten Jahr erst jetzt die volle Wirkung entfalten. Die wirtschaftliche Abschwächung im Moment ist gewollt, damit sich die Inflation zurückbildet und wieder unter Kontrolle gebracht werden kann. Die aktuellen Inflationszahlen bestätigen nun, dass die Teuerung zwar hartnäckig hoch ist, aber in der Tendenz sinkt. Dies ist in den USA ausgeprägter als in Europa der Fall, weshalb die Fed die Möglichkeit hat, nun zuzuwarten. Sollte sich der Trend in den USA zu niedrigeren Inflationsraten bestätigen, so ist dies das Ende der Zinserhöhungen in den USA. Insofern macht es für die Fed im Moment auch keinen Sinn, die Zinsen zu erhöhen, nur um diese in drei Monaten wegen einer allfällig schwachen Wirtschaftsentwicklung gleich wieder zu senken. 

Im Mai wurden an den US-Terminmärkten bereits Zinssenkungen zum Jahresende eingepreist, weil die Ökonomen von einer Rezession im zweiten Halbjahr ausgingen. Wie hoch ist das Rezessionsrisiko in den USA wirklich?

Da die Geldpolitik erst mit Verzögerung wirkt, müssen wir nun abwarten, um zu sehen, in welche Richtung sich die US-Wirtschaft entwickelt. Ich gehe dabei nicht davon aus, dass diese sehr schnell in einen Abschwung fallen wird. Deshalb ist es sinnvoll, die Zinsen sowohl in den USA als auch in der Schweiz nach dem nächsten SNB-Entscheid auf dem aktuellen Niveau zu halten. Zinssenkungen werden frühestens im Jahr 2024 ein Thema. In den USA dürfte dies bereits im ersten Halbjahr der Fall sein, in Europa und der Schweiz fällt dies auf Ende 2024.

Sollte die SNB den Leitzins um 50 Basispunkte erhöhen, dürfte auch der Aufwertungsdruck auf den Franken noch weiter zunehmen?

Meiner Meinung nach wird die Zinsdifferenz vom Franken zum US-Dollar oder zum Euro als Indikator überschätzt. Es ist vielmehr die Fed, welche bei den Überlegungen zu Zinsanhebungen und Zinssenkungen einen wesentlich grösseren Einfluss auf den Devisenmarkt hat als die Schweizerische Nationalbank. Ob die SNB nun die Zinsen um 0,25 Prozent oder 0,50 Prozent erhöht, interessiert uns zwar in der Schweiz. Aber in Amerika ist das kaum von Interesse. Für den Franken sind vielmehr die geopolitische Situation und der Status als sicherer Hafen wichtig, aber das ist im Moment kein Faktor. 

Welchen Einfluss haben die Devisenverkäufe der Nationalbank auf den Wechselkurs des Frankens zum Dollar und zum Euro?

Die Nationalbank hat im vierten Quartal des letzten Jahres die Devisenreserven um substantielle 27 Milliarden Franken reduziert. Die SNB trat auch in den letzten Monaten als Verkäuferin von Fremdwährungen am Markt auf. Das macht durchaus Sinn und führt zu einer konstanten Nachfrage nach Franken, so dass die Schweizer Währung ein bestimmtes Niveau zum Dollar und Euro behält. Der Franken dürfte sich den nächsten Monaten und Jahren entsprechend gegenüber diesen zwei Währungen weiter aufwerten, bis die Nationalbank ihre Bilanz auf ein normales Niveau runtergefahren hat. Die Bilanzreduktion dürfte bis zu einem Jahrzehnt in Anspruch nehmen. 

Der Franken hat sich in den letzten 30 Jahren im Schnitt pro Jahr um jeweils 1 Prozent gegenüber Dollar und Euro aufgewertet. Bleibt dieser Trend damit bestehen?

Ein wesentlicher Faktor für die Wechselkursrelation ist die Inflationsdifferenz respektive die Kaufkraftparität. Ich erwarte, dass die Inflation in der Schweiz über die nächsten Jahre sich in einem Band von 1,0 bis 1,5 Prozent einpendelt und die hiesige Teuerung somit 1 bis 2 Prozent unter derjenigen in den USA und der Eurozone zu stehen kommt. Der Franken dürfte über die nächsten Jahre deshalb weiter 1 bis 2 Prozent gegenüber den beiden Währungen zulegen. 

Wie hoch ist das Risiko, dass die Inflation in der Schweiz nicht nachhaltig sinkt - die Zinserhöhungen führen gerade bei den Mieten über die nächsten 12 Monate zu einem deutlichen Anstieg?

Trotz diesem negativen Einfluss des Referenzzinssatzes bei den Mieten gehe ich nicht davon aus, dass dies ein Absinken der Teuerung auf 1 bis 1,5 Prozent verhindern wird. Ich erwarte nicht, dass wir wie während der Finanzkrise 2008 null Inflation haben werden. 

Die Zinsen dürften aber auch nicht gross sinken, wenn die Inflation in diesem Bereich zu stehen kommt, zumal immer noch viel Liquidität im Umlauf ist. Sind Sie da nicht zu optimistisch mit Blick auf die von Ihnen erwarteten rückläufigen Schweizer Zinssätze im zweiten Halbjahr 2024?

Wenn die Inflation tatsächlich Richtung 1 Prozent sinkt und ein leicht positiver Realzins angestrebt wird, dann hat die SNB ab dem kommenden Sommer einen Spielraum, um die Zinsen über die nächsten Jahre wieder leicht zu senken. Ich gehe davon aus, sich der Leitzins in der Schweiz längerfristig zwischen 1,0 und 1,5 Prozent einpendeln wird. Eine Negativzinsphase wie nach der Finanzkrise schliesse ich allerdings aus. 

Nach der Nullzinsphase scheint es, dass die Nationalbank auf einen etwas ruhigeren Pfad einschwenkt. Teilen Sie diese Meinung?

Mit der Finanzkrise hat die Nationalbank die Geldpolitik vollständig umstellen müssen. Vor der Finanzkrise wurde die Geldpolitik über den Libor - der heutige Saron - gesteuert, bevor die SNB nach der Eurokrise zu einer Währungssteuerung überging. Sie hat danach den handelsgewichteten Franken zu den anderen Währungen stabilisiert. Deshalb hat sie auch diesen Berg an Devisenreserven angehäuft. Mit den Zinserhöhungen in den positiven Bereich ist die Nationalbank nun wieder zu einer Zinssteuerung übergegangen. Der Unterschied zur Situation bei der Finanzkrise ist allerdings, dass die Liquidität im Markt heute enorm hoch ist. Das macht es nicht ganz einfach. Generell kann aber festgehalten werden, dass sich die Nationalbank sehr gut unter den gegebenen Rahmenbedingungen angepasst hat. 

Thomas Stucki ist Anlagechef der St. Galler Kantonalbank und verantwortlich für die Anlagepolitik und deren Umsetzung. Zwischen 1997 und 2006 war er Leiter des Anlagekomitees bei der Schweizerischen Nationalbank und dort verantwortlich für die Verwaltung der Devisenreserven und Franken-Obligationen.

Thomas Daniel Marti
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