Die Einschätzungen sind gespalten: Mehrere Diplomaten und Handelsexperten erwarten beschleunigte Verhandlungen vor Mileis Amtsantritt am 10. Dezember. Andere sind skeptisch, ob das von der Bundesregierung als besonders wichtig eingestufte Freihandelsabkommen mit Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay überhaupt noch kommen wird.
Auslöser der Debatte sind die Verbalattacken Mileis auf den gemeinsamen Markt Südamerikas. Ausserdem wird erwartet, dass sowie gegen den linksgerichteten brasilianischen Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva. «Lula wird jetzt wahrscheinlich noch mehr daran interessiert sein, die Verhandlungen abzuschliessen», hofft ein europäischer Diplomat, der mit den Verhandlungen vertraut ist. Denn brasilianische Unterhändler erklärten, es seien nur noch wenige Details zu verhandeln. Sie planten, das Abkommen auf einem Mercosur-Gipfel am 7. Dezember in Rio de Janeiro zu verkünden - also noch vor dem Regierungswechsel in Argentinien. «Die Gespräche schreiten schnell voran», sagt ein brasilianischer Beamter, der an den Verhandlungen beteiligt ist.
Der ehemalige brasilianische Handelsminister Welber Barral denkt zudem nicht, dass Milei seine Drohungen wahrmachen wird, aus dem Mercosur-Handelsblock auszutreten. Er verwies auf die Widersprüchlichkeit der Aussagen Mileis, der einerseits Mercosur kritisiere, aber andererseits für Freihandel sei. Mileis wahrscheinliche Aussenministerin Diana Mondino hatte in einem Reuters-Interview vor der Wahl gesagt, dass Mercosur zwar modifiziert, aber nicht «abgeschafft» werden solle.
Verkompliziert wird die Lage durch die persönlichen Angriffe Mileis auf den brasilianischen Präsidenten, den er als «wütenden Kommunisten» bezeichnete. Statt von Lula erhielt er im Wahlkampf Unterstützung von dessen Vorgänger, dem rechtsextremen ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro.
Sorge vor dem Stopp der Gespräche
Man werbe für einen Abschluss und sei optimistisch, sagt Regierungssprecher Steffen Hebestreit in Berlin. Einige Experten sind jedoch pessimistisch, was die Perspektiven des EU-Mercosur-Abkommens angeht. «Eigentlich gibt es in Südamerika derzeit kein grosses Interesse, das Freihandelsabkommen wirklich abzuschliessen», sagt etwa ein europäischer Diplomat. Das EU-Mercosur-Abkommen war 2019 nach zwei Jahrzehnten Verhandlungen im Grundsatz vereinbart worden. Aber weil die EU danach zusätzliche Umweltverpflichtungen forderte, zieht sich ein Abschluss in die Länge. Auf der EU-Seite gilt etwa Frankreich als Skeptiker, weil die Regierung in Paris neue Konkurrenz für die eigene Landwirtschaft befürchtet.
Oliver Stuenkel, Professor für internationale Beziehungen an der Getulio-Vargas-Stiftung in Sao Paulo, sieht eine weitere Gefahr: Es könne sein, dass Handelsbeziehungen etwa zwischen Argentinien und Brasilien fortgesetzt würden, aber Sprachlosigkeit auf der obersten politischen Ebene zwischen Buenos Aires und Brasilia einziehe. Auch das könnte einen Abschluss des Freihandelsabkommens gefährden.
Aus Sicht der deutschen Industrie wäre dies fatal. «Denn das EU-Mercosur-Handelsabkommen ist für die exportorientierte deutsche Wirtschaft von grosser Bedeutung», sagt die Aussenwirtschaftsexpertin des Deutsche Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Melanie Vogelbach. Die EU müsse deshalb Druck auf den Abschluss des Abkommens machen. Der Hintergrund: Lateinamerika gilt bei den Bemühungen, weniger wirtschaftlich abhängig von China zu werden, als wichtiger Baustein. 12.500 deutsche Unternehmen exportieren in die Mercosur-Staaten. Die deutschen Exporte in den Mercosur Raum beliefen sich 2022 auf 16 Milliarden Euro. Allein nach Brasilien nahmen die Exporte im vergangenen Jahr um 2,5 Milliarden Euro zu.
(Reuters)