Als "gefährlichste Frau Europas" stellte der "Stern" die italienische Postfaschistin Giorgia Meloni im September vor, bevor sie die Parlamentswahl gewann und erste Regierungschefin in Rom wurde. In der Europäischen Union wurde eine neue Zerreissprobe befürchtet, vor allem in der Finanz- und Migrationspolitik.

Die Sorge war so gross, dass EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen eine kaum verhüllte Drohung aussprach, sie verfüge über "die Instrumente", um mit Italien umzugehen, falls es vom demokratischen Weg abweiche. Doch fast 100 Tage nach Melonis Amtsantritt an der Spitze der rechtesten Regierung in Italien seit dem Zweiten Weltkrieg sind diese Bedenken weitgehend verflogen. Auch in Berlin hört man keine wirklich kritischen Worte über sie.

Trotz ihrer politischen Wurzeln im Nachkriegs-Faschismus und ihres oft scharfen Tons hat sich Meloni für Vorsicht statt Konfrontation im In- und Ausland entschieden. Die Chefin der rechtsextremen Partei Fratelli d'Italia fördert den Status quo, anstatt das Risiko einzugehen, mit radikalen Reformen Spannungen zu schüren. "Wir haben so etwas wie eine Metamorphose erlebt", sagte Sofia Ventura, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Bologna. "Sie hat sich gemässigter geäussert als in ihrer Oppositionszeit und hat klar erkannt, dass sie ihr Profil ändern muss, um eine glaubwürdige internationale Führungspersönlichkeit zu sein."

Gefahr von Auswirkungen kostspieliger Wahlversprechen

Dies zeigt sich auch in ihrer Haltung im Ukraine-Krieg. Vor dem Hintergrund von Sorgen, weil ihren Koalitionspartner, Forza-Italia-Chef Silvio Berlusconi und Lega-Chef Matteo Salvini, Sympathie für Russlands Präsidenten Wladimir Putin nachgesagt wird, betonte sie in ihrer ersten Regierungserklärung im Parlament Italiens Unterstützung für die Ukraine.

Sie gilt als Transatlantikerin und wird auch zur Abstimmung der Präsidenten und Regierungschefs der USA, Frankreichs, Deutschlands und Grossbritannien eingeladen wie erst zuletzt. Kanzler Olaf Scholz hatte Meloni nach ihrer Wahl ausdrücklich einen Vertrauensschuss eingeräumt und lapidar darauf verwiesen, dass "Demokraten und Demokratinnen" eng zusammenarbeiten müssten. "Es gibt nach Wahlen immer Regierungswechsel. Das ist nun einmal so in Demokratien", spielte er ihre Wahl herunter.

Politische Freunde und Gegner sagen gleichermassen, dass ein wichtiger Grund für ihren moderaten Ansatz das Geld ist - oder vielmehr der Mangel daran. Mit fast 150 Prozent der Wirtschaftsleistung ächzt Italien nach Japan und Griechenland unter der drittgrössten Staatsverschuldung unter den Industriestaaten. Der Abgang von Liz Truss, die nur zwei Tage vor Melonis Amtsantritt als britische Premierministerin nach Turbulenzen wegen umstrittener Steuersenkungspläne und nach nur wenigen Wochen an der Spitze der Regierung zurücktrat, hatte die Gefahr von Auswirkungen kostspieliger Wahlversprechen auf die Finanzmärkte auch für die Italienerin ganz deutlich gemacht.

Italien auf EU-Hilfen angewiesen

Der Druck auf Meloni ist durch die Abhängigkeit Italiens von EU-Hilfen gross. Vorgesehen ist, dass die Regierung in Rom rund 190 Milliarden Euro in Form von Zuschüssen und Krediten erhält, wenn sie eine Reihe von Reformen umsetzt, die mit der Vorgängerregierung unter Ex-EZB-Präsident Mario Draghi vereinbart wurden.

Um Bedenken aus dem Weg zu räumen, besuchte Meloni gleich auf ihrer ersten Auslandsreise nach ihrem Amtsantritt von der Leyen in Brüssel, um zu versichern, dass Italien trotz der von ihr im Wahlkampf mit teils massiver EU-Kritik vorgebrachten Vorbehalte seinen Verpflichtungen nachkommen werde. "Es wäre für Meloni undenkbar gewesen, sich dieses Geld entgehen zu lassen", sagte Daniele Albertazzi, Professor für Politik an der Universität Surrey. "Es war der einzige Weg."

Aussenpolitisch kam es nur mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu einem Streit. Grund war Italiens Weigerung, ein Schiff einer Hilfsorganisation mit mehr als 200 aus Seenot geretteten Migranten in einem Hafen anlegen zu lassen. Es wich nach Frankreich aus. In Regierungskreisen in Rom war von einem Missverständnis durch einen Tweet von Melonis PR-Team die Rede. Das Rechtsbündnis hatte im Wahlkampf angekündigt, die Migration nach Italien zu bremsen. Meloni versicherte aber, das Recht auf Asyl werde nicht infrage gestellt.

Langfristige Pläne

Grössere Reformpläne hat Melonis Koalition noch nicht vorgelegt. In ihrem knappen ersten Haushalt wurden viele teure Wahlversprechen schlicht ausgespart. Die Zustimmung für ihre Partei stieg dennoch in Umfragen auf über 30 Prozent von 26 Prozent bei der Wahl im September und damit auf mehr als das Dreifache der Unterstützung für die Koalitionspartner Lega und Forza Italia.

Dies könnte zu Reibereien führen. In einem Land, das von häufigen Regierungswechseln geplagt ist, wollen die drei Partner aber offenbar grössere Eklats vermeiden. Sie peilen eine volle fünfjährige Amtszeit an - etwas, was seit dem Zweiten Weltkrieg nur einmal in Italien geschafft wurde. Daher könne man sich mit den Reformpläne auch Zeit lassen, sagte Giovanni Donzelli, Organisationschef der Brüder Italiens zu Reuters. "Wir arbeiten an einem Programm, das sich über fünf Jahre erstreckt, ohne die Angst, sofortige Ergebnisse vorweisen zu müssen."

Konfliktpotential birgt jedoch der Vorstoss der Lega für mehr Autonomie der nördlichen Regionen, ihren Hochburgen. Melonis Partei befürchtet, dass dies zulasten ihrer Wähler in den zentralen und südlichen Regionen gehen könnte. "Die regionale Autonomie wird Meloni eine Menge Ärger bereiten", sagt Experte Albertazzi. "Das ist eine sehr schwierige Quadratur des Kreises."

(Reuters)