Die überraschend kräftige Zinswende der US-Notenbank Federal Reserve kommt zu einem heiklen Zeitpunkt: Weniger als zehn Wochen vor der Präsidentenwahl am 5. November haben die mächtigsten Währungshüter der Welt ihren Leitzins gesenkt - und das gleich um einen halben Prozentpunkt. Damit hat die unabhängige Fed zum ersten Mal seit fast einem halben Jahrhundert einen Lockerungszyklus im Vorfeld einer US-Präsidentschaftswahl eingeleitet. Den Start einer neuen Phase von Zinssenkungen weniger als zehn Wochen vor dem Urnengang hat es bisher nur zweimal gegeben: 1976 und 1984.

Notenbankchef Jerome Powell ist sich des heiklen Terrains bewusst, auf dem sich die Fed bewegt. Doch wird er nicht müde zu betonen, dass politische Erwägungen bei Zinsentscheidungen keine Rolle spielen. «Dies ist meine vierte Präsidentschaftswahl bei der Fed», sagte Powell kürzlich. «Alles, was wir vor, während oder nach der Wahl tun, wird auf den Daten, den Aussichten und der Abwägung der Risiken basieren und nicht auf etwas anderem.»

Trump will Mitspracherecht

Allerdings ist nicht jeder davon überzeugt. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump sagte schon Anfang des Jahres, er denke, die Fed könnte die Zinsen senken, um den Demokraten bei den Wahlen im November zu helfen. Im August forderte er gar, dass US-Präsidenten ein Mitspracherecht bei den Entscheidungen der Fed haben sollten - ein Frontalangriff auf die Unabhängigkeit der Notenbank.

Anders Trumps demokratische Konkurrentin Kamala Harris: «Als Präsidentin würde ich mich niemals in die Entscheidungen der Fed einmischen», sagte die US-Vizepräsidentin kürzlich. Beide Kontrahenten äusserten sich nun auch direkt zur XL-Zinswende: Der Republikaner ging die Notenbank dabei dieses Mal nicht frontal an, setzte aber eine Spitze. Er sprach von einer «grossen Senkung»: Wenn man davon ausgehe, dass die Fed damit nicht einfach Politik betreiben wolle, müsse es um die Wirtschaft wohl sehr schlecht bestellt sein.

Laut Jan Viebig, Chief Investment Officer bei der Privatbank Oddo BHF, wäre es allerdings verfehlt, aus der Höhe der Zinssenkung ableiten zu wollen, dass die wirtschaftliche Gesamtlage aus Sicht der Zentralbank einen drastischen Zinsschritt erfordert hätte. Die Fed sehe keine konkrete Gefahr für ein Abgleiten der US-Wirtschaft in eine Rezession. Mit jeweils 2,0 Prozent für die Jahre 2024 bis 2026 sei die Wachstumsprognose der Fed für die US-Wirtschaft praktisch unverändert gegenüber dem Stand vom Juni.

Trumps Konkurrentin Harris nannte den Fed-Senkungsschritt eine willkommene Nachricht. Sie konzentriere sich darauf, wie man die Preise weiter senken könne: «Ich weiss, dass die Preise für viele Mittelschicht- und Arbeiterfamilien immer noch zu hoch sind.»

Zinsänderungen meist Teil von Zyklen

Die Fed hat ausser in zwei Fällen in allen Jahren mit Präsidentschaftswahlen seit 1972 an der Zinsschraube gedreht. Dabei ging es sowohl in die eine als auch in die andere Richtung: Der Leitzins wurde in fünf Wahljahren angehoben, in sechs dagegen gesenkt. In den meisten Fällen waren diese Änderungen Teil von Zyklen, die ein Jahr oder länger vor einem Wahljahr in Gang gesetzt wurden. In vier der fünf Jahre, in denen die Zinsen vor der Wahl stiegen, gewann der amtierende Präsident oder der Kandidat der Partei, die im Weissen Haus das Sagen hatte.

Eine Ausnahme bildete das Jahr 2000. Damals gelang es Vizepräsident Al Gore nicht, das US-Präsidialamt für die Demokraten zu halten. George W. Bush eroberte es für die Republikaner zurück. Der stärkste Zinsrückgang in einem Wahljahr bis zum Tag des Urnengangs betrug 2,75 Prozentpunkte im Jahr 2008. Damals kappte der damalige Fed-Chef Ben Bernanke die Zinsen drastisch, um die Auswirkungen der globalen Finanzkrise abzufedern. Barack Obama eroberte das Weisse Haus in jenem Jahr für die Demokraten zurück.

(Reuters)