cash.ch: Herr Kearns, Finanzhistorikern zufolge sollte man in Finanzblasen stets die drei 'L' im Blick behalten: 'Leverage', also Verschuldung, 'Liquidity' beziehungsweise Liquidität, und 'Lunacy', also Irrsinn. Wo stehen wir bei jedem dieser drei Punkte?

Kevin Kearns: Zunächst einmal stimme ich beim Thema Leverage voll zu. Wenn wir uns die Verschuldung ansehen, ist das Bemerkenswerte an diesem Zyklus, dass nicht klar erkennbar ist, wo sie befindet. Typischerweise entstehen Blasen, bei denen das ganz offensichtlich ist, wie während der Immobilien- und Finanzkrise. Worum man sich in diesem Zyklus wirklich sorgen muss: Die Verschuldung muss gar nicht besonders hoch sein, um ein Risiko für die Finanzmärkte darzustellen, denn die Liquidität an den Märkten ist derzeit extrem. Trocknet sie aus - derzeit wird sie vor allem durch enorme Haushaltsdefizite und eine aggressive Notenbankpolitik gestützt -, braucht es keine historisch hohen Schuldenstände mehr, damit die Volatilität deutlich ansteigt.

Und der Irrsinn?

Wenn ich an die aktuelle KI-Debatte denke, erinnert mich das an das alte Thema von Aktiven und Passiven. Diese Dynamik haben wir vor einigen Jahren bereits bei einigen regionalen US-Banken gesehen: Unternehmen investierten stark in langlebige Vermögenswerte wie Rechenzentren, deren Lebensdauer 30 bis 35 Jahre beträgt. Doch die Hardware darin, insbesondere Chips, wird innerhalb von zwei bis drei Jahren abgeschrieben. Das führt zu einem Finanzierungsmissverhältnis: Firmen stecken enorme Summen in einen Vermögenswert, der schnell an Wert verliert, während die Infrastruktur über Jahrzehnte finanziert wird. Die jüngste Finanzierungsrunde von Meta war sehr interessant: Sie gaben im Grunde Garantien über sieben oder acht Jahre. Danach laufen die Garantien aus, aber die noch nicht abgeschriebenen Vermögenswerte bleiben bestehen. Das ist meiner Meinung nach eines der grössten Risiken derzeit: Man weiss nicht, wie die Endnachfrage aussehen wird, weshalb es eine massive Fehlallokation zwischen Aktiven und Passiven geben könnte - und letztlich die Frage, wer am Ende auf dem unterperformenden Vermögenswert sitzen bleibt.

Betrifft dieses Problem alle Mega Caps?

Ich mache mir um Google, Meta oder Microsoft keine Sorgen. Sie besitzen den Kunden, sie sind vertikal integriert. Aber wenn man sich ein Unternehmen wie Oracle anschaut: Die haben eine sehr aggressive Finanzierungspolitik mit OpenAI. Diese Unternehmen sind - wie der Credit-Default-Swap-Markt zeigt - die potenziellen Schwachstellen im Markt. Microsoft wird eine gewisse Fehlallokation von Kapital verkraften können. Kleinere, weniger kapitalstarke Unternehmen könnten dagegen vor erheblichen Herausforderungen stehen.

Abgesehen von Google, Meta und Microsoft: Wo sehen Sie die grössten Chancen?

Durch den Einsatz von KI können Unternehmen nach unserer Einschätzung mindestens 15 bis 20 Prozent effizienter werden. Das ist enorm. Die Innovationsdynamik der nächsten fünf bis zehn Jahre wird unvergleichbar sein. Aber das wirklich grosse Geld wird meiner Ansicht nach in spezialisierten KI-Tools stecken - kleinen Anwendungen, die viel Geld sparen, Prozesse effizienter machen oder das Kundenerlebnis verbessern. Nicht in humanoider KI. Autonomes Fahren ist ein gutes Beispiel: Hätten wir nicht schon vor zehn Jahren selbstfahrende Autos haben sollen? Solche Technologien benötigen schlicht deutlich mehr Zeit als ursprünglich angenommen. Gleichzeitig gibt es in der Zwischenzeit enorme, schrittweise Fortschritte. Genau danach halte ich Ausschau: Alles von Einkaufsassistenten bis hin zur Automatisierung von Bankprozessen, Finanzen, Zahlungsverkehr. Denken wir an Blockchain und KI und deren Kombination: Teilbesitz an Immobilien und anderen Vermögenswerten - das sind alles extrem spannende Innovationen.

Ein zentraler Treiber der Börsenrallye ist die stark steigende Staatsverschuldung, vor allem in den USA. Gibt es hierfür eine Grenze?

Was an Trumps Zöllen faszinierend ist: Es handelt sich effektiv um eine grosse Steuererhöhung. Wären 360 Milliarden Dollar durch eine klassische Steuererhöhung erzielt worden, entspräche das effektiv einer Steueranhebung um 6 bis 8 Prozent. Der Grossteil der amerikanischen Bevölkerung hat noch nicht mal realisiert, dass dies eine Steuererhöhung ist. Die Zolleinnahmen haben kurzfristig etwas Druck vom Anleihemarkt genommen. Aber irgendwann muss das Budget ausbalanciert werden. Wir halten die aktuelle Situation für unhaltbar und erwarten eine Mischung aus Wachstum, Inflation, Währungsabwertung und Sparmassnahmen. Ganz ähnlich wie das, was wir in den vergangenen fünf Jahren in Japan gesehen haben.

Führen Sparmassnahmen nicht fast zwangsläufig zu einer Rezession?

Ja, und genau deshalb werden sie damit so lange wie möglich warten. Regierungen greifen nur dann zu Sparmassnahmen, wenn sie der Anleihemarkt dazu zwingt. Politiker setzen solche Programme kaum je freiwillig um, weil sie ihrer Bevölkerung, und damit ihren Stimmen, schaden. Austerität entsteht daher erst, wenn der Anleihemarkt Defizite nicht mehr zu Top-Konditionen finanziert. Dafür gibt es in den USA derzeit keinerlei Anzeichen. Um Austerität zu vermeiden, werden sie zunächst über ein bis zwei Jahrzehnte hinweg eine Zinskurvenkontrolle einführen. Ein Beispiel dafür ist Japan, wo die Zentralbank schlicht das gesamte Anleiheangebot aufkauft. Die Lösung des Schuldenproblems wird hingegen eine Mischung aus Sparmassnahmen, Inflation, Wachstumspolitik und eben Zinskurvenkontrolle sein. All dies wird zu einem deutlich schwächeren Dollar führen.

Haben Sie ein Kursziel für Dollar-Euro oder Dollar-Schweizer Franken?

Ich halte mich von solchen Prognosen fern, weil ich immer richtig liege (lacht). Nein, ich bin jedoch deutlich optimistischer für den Schweizer Franken als für den Euro.

Erst SoftBank, jetzt der Investor Peter Thiel. Bekannte KI-Befürworter positionieren ihre Portfolios um. Wie interpretieren Sie das?

Sie haben viel Geld verdient. Sie kennen sicher die Studien zu den aktuellen Bewertungsniveaus. Und es ist ziemlich ernüchternd, zu glauben, auf diesem Niveau weiterhin überdurchschnittliche Renditen erzielen zu können. Deshalb halte ich es für eine sinnvolle Entscheidung, jetzt Gewinne mitzunehmen und die Anlagen zu diversifizieren.

Viele Experten sagen hingegen, dass die aktuelle Situation trotz ähnlicher Bewertungsniveaus nicht mit der Dotcom-Blase zu vergleichen sei. Wie sehen Sie das?

Ja, direkt vergleichen kann man es nicht, aber es gibt klare Parallelen. Damals gab es viele Unternehmen ohne Umsätze, die lediglich auf Verschuldung setzten. Für den Vergleich mit heute ist Cisco ein interessantes Beispiel: Cisco stand damals an der Spitze, sie hatten Umsätze und eine solide Bilanz. Nach dem Platzen der Blase durchlief Cisco wegen ihrer Vendor-Finanzierung ein schwieriges Jahrzehnt, aber sie überlebten, weil sie Kapital hatten. Viele andere ohne starke Bilanz überlebten nicht. Heute ist das nicht wesentlich anders. Es gibt vier oder fünf Unternehmen mit riesigen liquiden Mitteln - die Microsofts dieser Welt. Aber daneben gibt es viele andere, von Rechenzentrumsbetreibern bis zu Softwarefirmen, die diese finanzielle Stärke nicht besitzen. Genau darin liegt das eigentliche Risiko. Es sind die 'Tweeners' und die kleinen Unternehmen, die sich nicht schnell genug anpassen – sie könnten das Platzen der KI-Bewertungsblase nicht überleben.

Können Sie konkrete Aktien nennen, die Sie derzeit interessant finden?

Einige Goldminenaktien haben noch Potenzial. Ich halte auch europäische Banken für gut positioniert. Sie haben ihr Kapital deutlich erhöht. Im KI-Sektor bevorzugen wir jene Unternehmen, die vertikal integriert sind und eine ausgewogene Finanzpolitik, Innovationskraft und technologische Stärke vereinen. Wir glauben zudem, dass US-Banken weiterhin gut dastehen. Natürlich ist der Markt hoch bewertet, sodass die Aktienauswahl wichtiger wird als die Bewertung des Gesamtmarktes. Wichtig jedoch: Die Regierung hofft, die Zinsen zu senken. Wenn das passiert, wäre das ein völlig anderes Umfeld als jenes, das ich gerade beschrieben habe. Andere Unternehmen würden in einem solchen Umfeld profitieren, einschliesslich Small Caps.

Haben Sie abschliessend Tipps für Anleger, wie sie sich für das nächste Jahr optimal positionieren?

Man muss taktisch vorgehen, die grossen Trends erkennen, die Bewertungen der Mega-Caps beobachten. Und insbesondere wird Diversifikation entscheidend sein. Nach drei Jahren hoher zweistelliger Renditen glaube ich nicht, dass es so weitergehen wird. Die Renditen werden deutlich bescheidener ausfallen. Aber ich bin überzeugt, dass es ein Markt für «Stock Picker» sein wird.

Meinen Sie mit «Diversifikation» eine Abkehr von den USA, von Technologie und vom US-Dollar?

Ja. Ich würde entweder einen gleich gewichteten S&P wählen, um nicht von den grossen Unternehmen dominiert zu werden. Ich würde Dividendenstrategien nutzen und definitiv global investieren, statt 60 bis 70 Prozent in den USA zu halten. Zudem würde ich versuchen, den US-Dollar zu meiden.

Kevin Kearns ist Portfolio Manager und Leiter der Alpha Strategies Group bei Loomis Sayles. Er verfügt über 39 Jahre Investmenterfahrung und ist seit 2007 bei Loomis Sayles. Zuvor leitete er bei Boldwater Capital das Derivate-, Quant- und Risikomanagement und verantwortete kreditfokussierte Relative-Value-Strategien. Davor war er Managing Director für Kreditderivate bei Fleet Boston. Er hat einen Abschluss in Physik, einen MBA und ein Machine-Learning-Zertifikat der Cornell University.

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