cash.ch: Herr Scognamiglio, werden wir in der Schweiz soziale Unsicherheit oder Spannungen zu spüren bekommen? Die Inflation liegt bei über 3 Prozent, Energiekosten steigen, der Häusermarkt ist teuer und die Finanzierung von Wohneigentum auch.

Donato Scognamiglio: Ich hoffe nicht. Es gibt aber verschiedene Aspekte im sozialen Kontext, die uns beschäftigen: Eine hohe Nachfrage nach Wohnraum, eine zu geringe Bautätigkeit und tiefe Leerstände in den Zentren - einhergehend mit höheren Nebenkosten. Zusätzlich kommt die Frage auf, ob es aufgrund der stark gestiegenen Zinsen zu einer Korrektur des Marktes kommt. Dies könnte zu einem Preisrutsch bei Immobilien führen. 

Welche Entwicklungen sehen Sie im Mietmarkt voraus?

Eine hohe Nachfrage trifft in den Städten auf ein zu knappes Angebot. Die Angebotsmieten werden daher an solchen Lagen steigen. Mieter in bestehenden Mietverhältnissen hingegen werden im nächsten Jahr erst mit steigenden Mieten konfrontiert sein, wenn der Referenzzinssatz steigt und der Eigentümer in den Jahren zuvor auch die Senkungen vorgenommen hat. Was prozentual stark ansteigen wird, sind die Nebenkosten, insbesondere bei jenen Haushalten, welche noch mit Öl und Gas heizen. Diese veränderte Situation bei den Nebenkosten wird im Jahr 2023 deutlich sichtbar. Das Thema hat bisher noch gar nicht richtig eingeschlagen, denn die grossen Preiserhöhungen kommen mit einer gewissen Zeitverzögerung.

Ist man sich dessen überhaupt richtig bewusst?

Nebenkosten hat man bisher relativ wenig beachtet - 'Neben'-Kosten eben. Aber wer 1500 Franken Miete für eine 4-Zimmer-Wohnung bezahlt, wird im Monat statt 200 Franken neu 300 Franken oder mehr für die Nebenkosten aufwenden müssen. Dazu kommt noch eine stark gestiegene Rechnung für den Strom. 10 Prozent der Bevölkerung müssen für das Wohnen schon heute über ein Drittel ihres Einkommens aufwenden. Dazu kommen steigende Krankenkassenprämien und die Inflation. 

Was erwarten Sie an Folgen?

Wir leben in einer neuen Welt der Knappheit. Es scheint nicht mehr alles einfach verfügbar zu sein. Es wird Diskussionen geben: Einige Mieter werden fragen, wie sie die hohen Kosten bezahlen können und weshalb sie mehr für die Nebenkosten ausgeben müssen, wenn der Vermieter es verpasst habe, das Gebäude rechtzeitig sanieren zu lassen. Diese Argumentation greift aber zu kurz. Eine sanierte Liegenschaft hat zwar tiefere Nebenkosten, doch höhere Netto-Mieten, als eine unsanierte Altbauwohnungen. Und wer in Richtung erneuerbare Energien sanieren wird, wird nicht nur händeringend Fachkräfte suchen, sondern sich die Frage der Rentabilität beziehungsweise nach der Überwälzung der Kosten stellen müssen.

Wie schnell wird man die Preiserhöhungen spüren? 

Im Verlauf des nächsten Jahres werden die meisten Preiserhöhungen Realität sein. Die Erhöhung ergibt sich aus dem zu erwartenden Anstieg des Referenzzinssatzes und dem Anstieg der Nebenkosten. Zusätzlich erlaubt das Mietrecht, rund 40 Prozent der Inflation auf die Mieten zu überwälzen. Das Thema der höheren Belastung wird sicher politisch bewirtschaftet werden. Im nächsten Herbst sind eidgenössische Wahlen. Je nach Partei wird man versuchen, sich zu positionieren. Die Städte beispielsweise könnten angesichts der Diskussion um die Wohnkosten noch etwas mehr nach links rücken. Bedenken Sie, dass eine Stadt wie Basel über 80 Prozent Mieter zählt.

Manche erschreckt die Diskussion um den Referenzzinssatz für Mieten. Was erwarten Sie hier? 

Steigen die Hypothekarzinsen, steigt auch mit einer gewissen Verzögerung der sogenannte Referenzzinssatz. Dieser misst den durchschnittlichen Hypothekarsatz aller Banken. Da viele Bankkunden noch über laufende Hypothekarverträge zu tiefen Zinsen verfügen und ihre Hypothek noch nicht zu den neu hohen Konditionen erneuern mussten, liegt der Referenzzinssatz noch bei tiefen 1,25 Prozent. Es ist davon auszugehen, dass dieser Satz 2023 in zwei Schritten auf 1,75 Prozent steigen könnte. Dies würde es dem Vermieter erlauben, die Mieten um rund 6 Prozent zu erhöhen, sofern er auch die Senkungen jeweils weitergegeben hat.

Sie stellten fest, es werde zu wenig gebaut. Wie wird sich die Bautätigkeit entwickeln? 

Ist die Schweiz weiterhin so attraktiv, dass sie jährlich wie in den letzten Jahren um mehr als die Bevölkerung der Stadt Biel wächst, dann braucht es Wohnraum, sofern man am Credo des Wachstums weiter festhalten will. Aufgrund der aktuell steigenden Zinsen und der gestiegenen Baukosten ist es zu einem Abbremsen der Bautätigkeit gekommen. Es gibt nicht mehr die Not, Geld mit negativer Verzinsung anlegen zu müssen. Ein zehnjähriger Pfandbrief gibt wieder 2 Prozent Rendite ohne Risiko. Es ist aber davon auszugehen, dass nach der aktuellen Korrektur wieder mehr in den Bau investiert wird, um die hohe Nachfrage nach Wohnraum zu befriedigen und die notwendigen Sanierungen für die Energiewende zu realisieren. 

Wo fehlt es? 

Für das Jahr 2022 rechnen wir mit einer Zuwanderung von netto rund 80'000 Personen. Das sind natürlich neue Konsumentinnen und Konsumenten und dies nützt der Schweiz volkswirtschaftlich. Auf der anderen Seite braucht es aber auch Wohnungen und Infrastruktur. Wir benötigen also allein 40'000 Wohnungen mehr, wenn wir rechnen, dass in einer Wohnung im Schnitt zwei Personen leben. Dann kommen die Flüchtlinge aus der Ukraine dazu. Es hat mich beindruckt, dass so viele Schweizer Privathaushalte ihre Türen für diese Menschen in Not geöffnet haben. Nur, auch diese neuen Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz werden mit der Zeit eine eigene Wohnung wünschen. Knapper Wohnraum und tiefere Leerstände in den Zentren werden die Folge sein, wenn es nicht gelingt, das Angebot zu erhöhen.

Nicht nur bei den Mieten, auch beim Wohneigentum wird vom sozialen Aspekt gesprochen. Wohneigentum könne man nur noch dank wohlhabenden Eltern erwerben, wird immer wieder gesagt. 

Die stark steigenden Immobilienpreise haben dazu geführt, dass es zu deren Finanzierung heute absolut betrachtet viel mehr Eigenmittel aber auch viel höhere Einkommen braucht als noch vor 10 Jahren. Die Einkommen haben nicht mit der Entwicklung der Preise Schritt halten können. Insbesondere für junge Familien bleibt der Traum vom eigenen Heim leider oft nur ein Traum. Was bringt es, wenn wir uns die Objekte erst im Alter von 50 Jahren leisten können, wenn die Kinder bereits erwachsen sind und das Haus verlassen haben? Für eine Hypothek über eine Million Franken braucht es ein Haushaltseinkommen von 150'000 Franken im Jahr. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen liegt aber bei 80'000 Franken. Die Fragestellung 'Kaufen oder Mieten?' ist für weite Bevölkerungskreise zynisch, bleibt doch oft nur das Mieten. 

Was kommt da auf uns zu? 

Es ist in der Tat so, dass sich die Preise seit dem Ende der letzten Immobilienkrise 1998 in vielen Regionen verdoppelt haben. In Genf haben sie sich verdreifacht. Die Löhne haben sich in den vergangenen 25 Jahren aber niemals verdoppelt oder verdreifacht. Die Folge ist eine starke Binnenwanderung: Weg von den Zentren ab aufs Land. Zudem wird die Schweiz auch in Zukunft ein Land der Mieter bleiben.

Dies beobachtet man schon seit einigen Jahren. 2022 ist aber dazugekommen, dass für eine Festhypothek mit zehn Jahren Laufzeit heute 2,5 bis 3 Prozent Zins bezahlt werden. Vor einem Jahr war es je nach Situation weniger als die Hälfte. 

Die Zinserhöhungen werden zu einem Abflachen der Preiserhöhungen führen. Dass man deswegen ein Schnäppchen auf dem Immobilienmarkt machen kann - dies kann man vergessen. Die Eigenheimpreise werden im nächsten Jahr vermutlich nicht mehr als 10 Prozent korrigieren. Für junge Familien ist dies kein wesentlicher Unterschied. Und die Generation der Baby-Boomer wird ihre Häuser verständlicherweise noch einige Jahre halten wollen und nicht sofort auf den Markt werfen. 

Überrascht Sie, dass die Saron-Hypothek 2022 so viel beliebter geworden ist? Der Siegeszug der geldmarktbasierten Saron-Hypotheken hat etwas untypisches. Werden wir von einer Nation der vorsichtigen Festhypotheken-Finanzierer plötzlich Zins-affin und risikofreudig? Oder handeln Hausfinanzierer mit einem latenten Gefühl der Verzweiflung?

Die meisten Prognosen zur Zinsentwicklung, die Ende 2021 gestellt wurden, haben sich als falsch erweisen. Eine Prognose nun, die lautet: 'Es kommt ja schon gut', hat etwa die Qualität der Prognosen Ende 2021. Was ich damit sagen will: Über Jahre versicherte man den Leuten, dass die Zinsen nicht steigen würden. Hypothekarnehmer stellten fest, dass eine Million Franken Hypothek 10’000 Franken Zins im Jahr kostete, und leisteten sich von scheinbar gespartem Geld andere Dinge wie Reisen und Autos. Ganz viele sind jetzt vom massiven Anstieg der Hypothekarzinsen überrascht worden. Jetzt müsste man bei einer Festhypothek mit 3 Prozent - 30’000 Franken bei einer Million Franken Hypothek – zahlen. Dies können aber viele nicht. Man wählte also den 'Parkplatz' Saron mit der Erwartung, es ‘komme dann schon gut’. 

Also im Kern keine risikofreudige Haltung respektive ein besseres Verständnis von Zinsprodukten, sondern ein Hoffnungsprinzip?

Ja, weil einige Hypothekarnehmer über den Verhältnissen gelebt haben. Jetzt schaffen oder wollen sie nicht, die Lebenssituation anzupassen. Und nun stellt man fest, dass es auch auf dem 'Parkplatz Saron' ungemütlich wird und die Zinsen steigen.

Der Saron korreliert eng mit dem Leitzins der Schweizerischen Nationalbank (SNB), der seit Juni in nunmehr drei Schritten von -0,75 auf 1 Prozent angehoben worden ist. Bei der Saron-Hypothek kommt auf diesen Zinssatz eine Marge. 

Beim derzeitigen Wettbewerb sprechen wir von rund 80 Basispunkten Marge. Eine Saron-Hypothek verfügt also im Moment über einen Zins von zirka 1,8 Prozent, und wenn die SNB die Zinsen weiter erhöht, wird auch der Saron noch teurer. Man kann sich relativ leicht vorstellen, dass viele wieder in die Fixhypothek wechseln wollen. Wenn viele Kunden dies machen, wird die Bank mehr Absicherungsgeschäfte tätigen müssen, was wiederum nicht gratis ist und auch bei den längerfristigen Zinsen zu einem Anstieg führen könnte. Ich kann mir gut vorstellen, dass Saron-Hypotheken nächstes Jahr über 2,5 Prozent und die Festhypotheken mehr als 3,5 Prozent Zins kosten werden. 

In den vergangenen Monaten ist auch wieder die Diskussion aufgekommen, ob man einfach im Saron bleiben und warten solle, bis tiefere Zinsen die Festhypotheken wieder günstiger machen. Eine gute Idee?

Auf dieses Szenario zu setzen ist reine Spekulation. Nehmen wir an, die Inflation in den USA und in Europa bleibt hoch und die Zentralbanken bekommen die hohen Preise nicht in den Griff. Und nehmen wir an, dass die Schweiz diese Inflation weiterhin importiert. Dann ist nicht ausgeschlossen, dass wir auf ein Zinsniveau von 5 Prozent gelangen werden. Ist die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios hoch? Nein, aber das Risiko besteht. Risiken kann man eingehen, wenn man genug Eigenkapital hat und dieses notfalls abschreiben kann. Wer nicht über genügend Eigenmittel verfügt, tut gut daran, seine Schulden sukzessive abzubauen. Aber Wenn ein Bergführer vor einer Bergtour sagt, dass die Wahrscheinlichkeit eines Absturzes auf dem Wanderweg nur 10 Prozent betrage, gehen Sie auch nicht mit. Man will 100 Prozent sicher sein. 

Bei 5 Prozent Zins bestünde allerdings ein Problem mit der Tragbarkeit: Banken verlangen ja als Bedingung für die Hypothekenvergabe, dass etwa 4 bis 5 Prozent Zins ausgehalten werden müssen. 

Eigentlich nicht, denn die Kunden müssen auch heute noch aufzeigen können, dass sie in der Lage sind, einen Zins von 5 Prozent zu bezahlen, ohne dass ihr Einkommen zu mehr als einem Drittel durch die Zinsen belastet wird. Ich gehe aber leider davon aus, dass trotzdem viele Hypothekarschuldner stark gefordert wären, insbesondere, wenn der Saron auf dieses Niveau steigen würde. Gemäss den Zahlen der SNB überschreiten bei 3 Prozent Zins schon viele Haushalte die 'gesunde' Regel, dass man nicht mehr als ein Drittel des Bruttoeinkommens fürs Wohnen ausgeben solle. Man kann natürlich 40 Prozent ausgeben, aber dann muss man den Gürtel enger schnallen. Wenn dann zudem die Immobilienpreise sinken, wird es für finanziell knapp ausgestattete Haushalte schwieriger, Immobilienwert abzuschreiben. Am schlimmsten wäre es für diese Haushalte, wenn sie bei sinkenden Preisen Nachschusspflichten leisten müssen, also die Banken eine Art Margin Calls einfordern würden. Wir gehen zum Glück heute nicht davon aus, dass wir in eine solche Situation geraten. Die hohe Zuwanderung, die Knappheit an Boden sowie die nach wie vor relativ gute laufende Wirtschaft sind alles Faktoren, welche den Immobilienmarkt heute und hoffentlich auch noch morgen stützen.

Ende 2021 kritisierten Sie im Gespräch mit cash.ch die Nationalbank: Diese ignoriere die Inflationsgefahr, heize mit Negativzinsen den Immobilienmarkt an und warne gleichzeitig vor einer Überhitzung. Fällt Ihr Urteil über die Währungshüter nach drei Zinserhöhungen auf 1 Prozent jetzt gnädiger aus? 

Die Notenbanken sind aufgewacht. Diese würde von sich selber natürlich nicht sagen, dass sie geschlafen haben. Aber die Inflation wurde von den Notenbanken unterschätzt, und dies nicht nur in der Schweiz, sondern auch in den USA oder in Europa. Jetzt muss man aber fairerweise sagen, dass die SNB mit der ersten Zinserhöhung im Juni schnell und meiner Meinung nach sehr gut reagiert hat, dass sie mit dem ersten 50-Basispunkte-Schritt stark reagiert hat und dass sie vergangene Woche bereits zum dritten Mal Gegensteuer gegeben hat. Ich wünsche der SNB, dass sie die steigenden Preise in den Griff bekommt. Am Ende ist es aber nicht die SNB, die das Wetter macht. Sie überlegt sich lediglich, den Regenschirm weiter oder weniger weit aufzuspannen. 

Also keine Kritik mehr?

Wichtig ist, dass sie jetzt rasch und beherzt die Zinsen erhöht hat. Doch sehr schlecht fand ich die über Jahren empfundene Verharmlosung der Negativzinsen. Eine riesige Umverteilung wurde nicht thematisiert: Von jenen, die keine Schulden machen konnten, hin zu jenen, die dies konnten. Und die steigenden Zinsen lindern für Sparerinnen und Sparer im Moment nur die Folgen der Inflation. Real ist man bei 3 Prozent Inflation bei 0,5 Prozent Sparzins immer noch 2,5 Prozent im Minus.

Steigende Zinsen sind auch ein Zeichen der Normalisierung. Müsste man dann die Zinserhöhungen nicht positiver sehen?

Für die Sparer ja, für die Schuldner nein, denn diese lernen jetzt, dass Geld wieder knapp ist. In der ersten Stunde Volkswirtschaftsunterricht lernt man: 'Die Bedürfnisse der Menschen sind unendlich, aber die Ressourcen sind begrenzt.' Güter kosten und sind knapp. Liquidität hat wieder einen Wert. Dies ist eigentlich der Normalfall. Aber nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre ist diese Situation eine neue Welt. Kein Weltuntergang, aber eine neue Welt.

Donato Scognamiglio ist CEO und Mitinhaber der Immobilienberatungsfirma IAZI in Zürich sowie Dozent und Titularprofessor an der Universität Bern.