Nach der am Montag vom renommierten britischen Internationalen Institut für Strategische Studien (IISS) veröffentlichten Untersuchung werden die Überlegungen durch den ausbleibenden Erfolg russischer Truppen in der Ukraine befeuert. Dies habe zu einem Vertrauensverlust in die konventionellen Streitkräfte geführt, was aus Sicht mancher russischer Strategen durch die Drohung mit taktischen Atomwaffen ausgeglichen werden könnte.
Zu den nicht-strategischen Atomwaffen zählen alle Atomwaffen mit einer Reichweite von bis zu 5500 Kilometern. Dabei geht es um Atomwaffen, die etwa für den Einsatz auf Schlachtfeldern entwickelt wurden. Ausgenommen sind strategische Atomwaffen mit grosser Reichweite, mit denen der russische oder amerikanische Staat zerstört werden könnte und die das Rückgrat der nuklearen Abschreckung bilden.
Zweifel an der Glaubwürdigkeit westlicher Drohungen
Aus russischer Wahrnehmung sei die Drohung des Westens, Atomwaffen einzusetzen oder einen Kriegsverlauf mit vielen Opfern in Kauf zu nehmen, kaum glaubwürdig, schreibt der Autor der Studie, William Alberque. Dies fördere in Russland die Bereitschaft, taktische Atomwaffen einzusetzen. Demnach könnte damit ein Konflikt kontrolliert eskalieren werden, «entweder um die USA und die Nato von einem Engagement abzuhalten oder um sie zu einer Kriegsbeendigung zu russischen Bedingungen zu zwingen», heisst es in der Expertise.
Als Beleg führt Alberque unter anderem den russischen Analysten Sergej Karaganow an. Der sprach vergangenes Jahr von der Notwendigkeit, mit Atomschlägen in Europa zu drohen, um Moskaus Feinde einzuschüchtern und «zu ernüchtern». Nach Angaben Alberques beteiligt sich Karaganow an einer breiteren Diskussion in Russland über die Unfähigkeit des Militärs, den Krieg in der Ukraine klar und schnell zu gewinnen. Unter russischen Experten wachse die Furcht, der Westen könne durch das militärische Versagen zu weiteren Vorstössen gegen russische Interessen ermutigt werden.
Risiko schwerer kalkulierbar
Das grosse Risiko des Einsatzes taktischer Atomwaffen ist jedoch, ob damit ein alles vernichtender Einsatz strategischer Atomwaffen ausgelöst werden. Die Regierung in Moskau müsse die richtige «Dosis» berechnen, um ihre Feinde zum Einlenken zu zwingen, anstatt eine Eskalation auszulösen, schreibt Alberque. In den USA bereite die Frage, wie auf Angriffe mit taktischen Atomwaffen regiert werden sollte, den Strategen schlaflose Nächte, erklärt der ehemalige Mitarbeiter im US-Verteidigungsministerium und der Nato. Wie könne die Eskalation bis hin zur Vernichtung aufgehalten werden? «Das ist eines der schwierigsten Probleme, ein Problem, das es seit Anbeginn des Atomzeitalters gibt.»
Russlands Präsident Wladimir Putin hatte zu Beginn der Invasion der Ukraine gewarnt, jeder, der Russland behindern wolle, müsse mit Konsequenzen rechnen, «die ihr in eurer Geschichte noch nie erlebt habt». Im Sommer vergangenen Jahres liess er taktische Atomwaffen ins verbündete Belarus verlegen. Dies hat jedoch weder die USA noch andere Nato-Partner davon abgehalten, die Ukraine massiv aufzurüsten und ihr auch sonstige militärische Hilfe zu gewähren.
Sollte Russland tatsächlich taktische Atomwaffen einsetzen wollen, dürfte dies laut der Studie dem Westen nicht verborgen bleiben. Westliche Geheimdienste seien in der Lage, entsprechende Hinweise zu erkennen, schreibt der Autor. Dabei gehe es etwa um die Verlagerung von Atomwaffen aus einem zentralen Lager zu einem Luftwaffenstützpunkt. Zudem würde wahrscheinlich das gesamte russische nukleare Kommando- und Kontrollsystem in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Zu rechnen sei auch damit, dass Putin sich in einen Atomschutzbunker begeben würde.
(Reuters)