Als Bhawri Devi im vergangenen Monat ihr Gehör verliert, glaubt sie, dass sie sterben wird. Devi ist Analphabetin und lebt in dem abgelegenen Dorf Jalore im indischen Bundesstaat Rajasthan. Sie geht in das staatliche Krankenhaus in der Nähe ihres Dorfes, doch dort gibt es keinen Facharzt. Die nächste private Klinik ist erst im benachbarten Bundesstaat Gujarat. Dort soll die Behandlung - eine Operation des Mittelohrs - rund 50.000 Rupien (615 Euro) kosten. "Ich hatte nicht einmal 5000 Rupien", berichtet die 41-Jährige. Verzweifelt kehrt sie nach Hause zurück. Einige Tage später hört Devi von Spezialisten, die sie umsonst behandeln würden.

Sie kommen Anfang April als Freiwillige auf dem Lifeline Express an, einem Zug, der in ein rollendes Krankenhaus umgewandelt wurde. Bereits seit 27 Jahren durchquert er Indien, um Menschen wie Devi, die in Gebieten mit einer mangelnden Gesundheitsversorgung leben, zu behandeln. Seit seiner Gründung im Jahr 1991 wurden im Lifeline Express rund 1,2 Millionen Menschen behandelt. In einem Land, das nur ein Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für das Gesundheitswesen aufwendet, stösst das Krankenhaus auf Rädern in eine kritische Lücke. Wie Devi sind die Armen in Indien auf das marode öffentliche Gesundheitssystem angewiesen, dem nur wenige vertrauen, oder darauf, ihren spärlichen Besitz zu verkaufen, um eine private Behandlungen zu finanzieren.

Die Regierung des indischen Premierminister Narendra Modi hat im Februar ein Programm gestartet, das den Versicherungsschutz auf 500 Millionen Menschen ausdehnen soll. Kritiker bemängeln aber, dass der Plan kaum funktionieren wird, wenn sich das öffentliche Gesundheitssystem nicht dramatisch verbessert. So lange bieten Optionen wie der Lifeline Express eine entscheidende Unterstützung. Der himmelblaue, mit einer Mahagoniblüten-Girlande geschmückte Zug, der in der verschlafenen Station von Jalore hält, könnte auch mit einem neuen Personenzug verwechselt werden. Seine Einrichtung aber stellt die vieler öffentlicher Krankenhäuser in den Schatten.

Arbeit an der Basis

Der Lifeline Express will sich jedoch nicht als Konkurrenz zum öffentlichen Gesundheitssystem verstanden sehen, sondern als Unterstützung. "Wir können nicht Hunderte solche Züge im Land haben", sagt Rajnish Gourh, Vorstand bei der Stiftung Impact India, die den Lifeline Express gegründet hat. In den nächsten sechs Monaten soll jedoch ein zweiter Zug starten, der den Norden und Nordosten Indiens abdeckt. Der für den indischen Zugverkehr zuständige Minister Piyush Goya hat nach Angaben von Gourh bei einem Treffen mit Vertretern des Lifeline-Express im Februar zugesichert, den zweiten Zug zur Verfügung zu stellen. Das Eisenbahn-Ministerium gab auf Anfrage keine Stellungnahme dazu ab.

Im Lifeline Express arbeiten 20 fest angestellte Sanitäter, die meisten Ärzte sind Freiwillige von den nahe gelegenen medizinischen Hochschulen oder Krankenhäusern. Normalerweise verbringen sie einen Monat in einem Distrikt, das Angebot reicht von orthopädischen Behandlungen bis hin zu Operationen bei Grauem Star, Krebs oder Gaumenspalten. Den freiwilligen Ärzten oder auch Medizinstudenten, die dort arbeiten, bietet der Zug die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zu verbessern, während sie gleichzeitig gemeinnützige Arbeit leisten.

"Weil wir an der Basis arbeiten, sind wir verschiedenen Arten von Krankheiten ausgesetzt", sagt Mehak Sikka, freiwilliger Arzt im Lifeline Express. "Du lernst mehr." Patienten wie Devi steht damit die Tür zur einer kostenlosen Behandlung offen, ohne die sie ihr Leben lang leiden oder sogar sterben würden. "Ich bin froh, dass ich einmal die Stimmen meiner Enkel hören kann", sagte Devi mit einem Lächeln. "Ich werde nicht taub."

(Reuters)