In der schlimmsten Lebenshaltungskostenkrise der industrialisierten Welt seit einer Generation erscheint die Schweiz als eine Art Insel der Glückseligen.

Preisanstiege von derzeit nur knapp über 3 Prozent im Jahresvergleich sind die niedrigsten in der OECD und ein Bruchteil dessen, was im Euroraum und in den USA zu beobachten ist. Dennoch warnt die Schweizerische Nationalbank, dass sie die Zinsen womöglich weiter anheben muss.

Wie das kleine Alpenland dem Inflationstrend widersteht, könnte auch für andere lehrreich sein. Die Landeswährung hat dabei ebenso geholfen wie politische Massnahmen, mit denen sich die Eidgenossen von den Problemen ihrer Nachbarn abgeschirmt und dennoch eine offene Volkswirtschaft beibehalten haben.

Der jüngste Verbraucherpreisindex vom Montag zeigt einen Preisanstieg von 3,3 Prozent. Im Folgenden ein genauerer Blick darauf, warum die Inflation in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern so gering ist.

1. Frankenstärke

In einem Interview nannte SNB-Präsident Thomas Jordan kürzlich den Franken den “wahrscheinlich wichtigsten” Grund für das geringere Preiswachstum. Die Aufwertung der Währung habe “einen Teil des Inflationsdrucks aus dem Ausland abgefangen”.

Seit seinem Tiefpunkt im Jahr 2021 wertete der Franken gegenüber dem Euro nominal um etwa 13 Prozent auf, wodurch Importe billiger wurden und für die Schweiz ein Art Teuerungsschutzwall nach aussen entstand.

Die dämpfende Wirkung des Frankens werde gemeinhin jedoch überschätzt, sagt Volkswirt Maxime Botteron von der Credit Suisse in Zürich. Seinen Berechnungen zufolge führt eine zehnprozentige Aufwertung des Frankens gegenüber dem Euro nur zu einem Rückgang der Gesamtinflation um 0,5 Prozentpunkte.

2. Inflationskorb

Jordan verwies auch auf das geringere Gewicht der Energie im Preiskorb, der in der Schweiz zur Inflationsmessung dient. Während Strom und Brennstoffe 6,6 Prozent des harmonisierten europäischen Verbraucherpreisindex ausmachen, sind es in der Schweiz nur 3,4 Prozent. Den am Montag vorgelegten eidgenössischen Daten wurde ein neuer Warenkorb zugrunde gelegt, in dem Energiepreise ein noch niedrigeres Gewicht haben als bisher. Wegen des geringeren Anteils an den Gesamtausgaben haben die höheren Energiepreise die Inflation in der Schweiz nicht so stark angeheizt.

Abgesehen von der simplen Mathematik kann die Schweizer Wirtschaft für sich in Anspruch nehmen, energieeffizienter zu sein als die europäische Konkurrenz.

“Ein Schock bei den Energiepreisen führt nicht so schnell zu einem Anstieg der Verbraucherpreise, was die Zweitrundeneffekte begrenzt”, sagt Alessandro Bee, Ökonom bei der UBS Group AG.

3. Niedrigerer Ausgangspunkt

Die Schweiz hat in letzter Zeit nur begrenzte Erfahrungen mit Preissteigerungen gemacht, war für die Verbraucher aber bereits vorher eines der teuersten Länder der Welt. Die SNB hat auch ein niedrigeres Inflationsziel als ihre Pendants. Sie strebt eine Inflationsrate zwischen 0 Prozent und 2 Prozent an.

Im Jahr 2020 schrumpfte das Preisniveau zeitweise sogar um 1,3 Prozent. In den letzten 10 Jahren verzeichnete die Eidgenossenschaft in fast der Hälfte aller Monatsdaten eine Disinflation.

Die Erwartungen der Schweizer Verbraucher zur Teuerung sind gedämpft, was UBS-Ökonom Bee als “Trägheitseffekt” bezeichnet. “Die Menschen haben sich jahrzehntelang an eine niedrige Inflation gewöhnt, so dass die Teuerungserwartungen etwas starr sind”, führt er aus.

4. Lebensmittelpreise

Die Inflation bei Lebensmitteln ist in der Schweiz erheblich niedriger als anderswo in Europa. Einem Preisanstieg von 4 Prozent in der Eidgenossenschaft steht 16 Prozent Teuerung im Euroraum gegenüber.

Als Hauptgrund dafür sieht Credit-Suisse-Volkswirt Botteron den “Schweizer Protektionismus”. Druck auf die Lebensmittelpreise sollte zudem daraus resultieren, dass viele Schweizer zum Einkaufen ins benachbarte Ausland ausweichen. Dies dürfte die Möglichkeiten der eidgenössischen Einzelhändler eingeschränkt haben, die Preise anzuheben.

5. Regulierte Preise

Der Anteil staatlich kontrollierter Preise ist in der Schweiz höher als in anderen Volkswirtschaften. Die Stromrechnungen der Haushalte können nur einmal im Jahr geändert werden. Insbesonders dieser Umstand erklärt den Inflationsanstieg von 0,5 Prozentpunkten im letzten Monat.

“In der Regel bedeutet dies nur eine Verzögerung der Preiserhöhungen”, sagt UBS-Ökonom Bee. Gegen die Teuerung bei den Verbraucherpreise habe auch der Umstand gewirkt, dass sich die Grosshandelspreise für Strom bereits etwas entspannt hatten, als im Januar Preiserhöhungen möglich wurden.

6. Medikamentenvergleiche

Eine Inflationssenkung von rund 0,1 Prozentpunkten resultiert laut Botteron von der Credit Suisse aus dem Umstand, dass die Schweizer Behörden die Arzneimittelkosten im Land mit dem Niveau anderer Staaten vergleichen und Preissenkungen vorschreiben können. Dadurch sollen nach offiziellen Angaben zwischen 2020 und 2022 von 250 Millionen Franken (254 Millionen Euro) eingespart worden sein.

7. Keine quantitative Lockerung

Bis Ende Juli letzten Jahres hatte die Schweiz mit -0,75 Prozent die ausgeprägtesten Strafzinsen der Welt. Der Verzicht der SNB auf eine quantitative Lockerung (“QE”) könnte sich indessen als vorteilhaft erwiesen haben.

Der Geldzuwachs, der im Ergebnis von Anleihekäufen in der Wirtschaft zirkuliert, erhöht das Inflationsrisiko, wie Volkswirtin Alexandra Janssen anmerkt. Die Geschäftsführerin des Zürcher Beratungsunternehmens Ecofin Portfolio Solutions verweist darauf, dass Notenbanken, die massive Staatsanleihen ihrer eigenen Länder gekauft haben, einen deutlichen Anstieg der Geldmenge M3 verzeichneten. Diese Messgrösse umfasst auch weniger liquide Vermögenswerte von Finanzinstituten und Unternehmen.

“Die Schweiz hat weniger Inflation produziert, weil die SNB in dieser Hinsicht eine bessere Geldpolitik betrieben hat”, sagte Janssen. Ihr Standpunkt mag umstritten unter den Ökonomen sein, deren Argumente für QE in den grossen Volkswirtschaften noch jahrelang für Diskussionen sorgen dürften.

(Bloomberg)