Der Fahrplan der Europäischen Union für die völlige Umstellung der Energieversorgung von mehr als 440 Millionen Menschen darf jetzt nicht mehr Jahrzehnte dauern und wird unter extremem Druck beschleunigt. Der Einschlag der Raketen in Kiew zertrümmert auch die bisherigen Pläne.
Während Moskau droht, seine Erdgaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1 zu stoppen, durch die letztes Jahr 38 Prozent der Gasimporte in die EU flossen, will Brüssel den Bedarf an russischem Gas in den nächsten neun Monaten auf weniger als ein Drittel kürzen. Washington und London haben im Alleingang angekündigt, kein russisches Öl mehr zu kaufen. Deutschland investiert 200 Milliarden Euro, um sich zehn Jahre früher vollständig mit erneuerbaren Energien zu versorgen.
Vor dem Krieg ging es um die globale Erwärmung, doch nun ist die Energiefrage noch dringlicher geworden: Was kann bis nächsten Winter getan werden, um der russischen Wirtschaft ihre wichtigste Geldquelle zu nehmen - ohne dass die Heizung hierzulande kalt bleibt? Was, wenn das schon nächsten Monat erreicht werden muss, weil Wladimir Putin sein eigenes Energieembargo umsetzt?
Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie das Finanzsystem als Waffe eingesetzt werden kann. Nun könnte das Gleiche bei Energie passieren. Im Folgenden die Möglichkeiten für eine rasche Abkehr von fossilen Brennstoffen aus Russland.
Frans Timmermans, der EU-Klimabeauftragte, sagte am Montag vor dem Umweltausschuss, es gäbe "keine Tabus" und überliess die kommenden Massnahmen jedem Land selbst. In der Praxis dürfte sowohl die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas aus nicht-russischen Quellen zunehmen, als auch der Ausbau von Solar-, Wind- und Kernenergie.
Kohle scheint am einfachsten zu ersetzen: Die USA und Australien können zusammen 70 Prozent der von der EU importierten russischen Kohle ersetzen, sagt Brian Ricketts, Generalsekretär von Euracoal, einer Lobby für die europäische Kohleindustrie. Mehrkosten für Europa laut Berechnungen von Bloomberg Intelligence: etwa 20 Milliarden Euro.
Bei Öl ist es schon schwieriger. Freie Kapazitäten etwa in Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten könnten theoretisch russische Ölimporte nach Europa innerhalb von Monaten ausgleichen. Allerdings wollen die beiden Länder ihre Produktion gar nicht hochfahren. Ohne russisches Öl könnte der Preis in Richtung 200 Dollar pro Barrel steigen. Dann müsste die EU zusätzliche 80 Milliarden Euro ausgeben, um russisches Rohöl zu ersetzen.
Obwohl die Schieferölproduktion schneller steigen könnte, als sie es derzeit tut, haben US-Produzenten wiederholt gesagt, Gewinne seien ihnen derzeit wichtiger als Mengenwachstum. Wenn der politische Wille da ist, könnte auch Öl aus dem Iran und Venezuela wieder auf die Weltmärkte gebracht werden.
EU-Emissionen um 8 Prozent höher
Das Dilemma bei Kohle und Öl ist weniger deren Verfügbarkeit, als die Auswirkungen, die das auf den Planeten hätte: Die Verbrennung von Kohle statt Gas würde die Emissionen der EU nach Berechnungen von Bloomberg um etwa 8 Prozent erhöhen. Zumindest solange, bis erneuerbare Energien den Wegfall kompensieren.
Das ist bei Erdgas nicht der Fall. Einige Länder könnten versuchen, mehr Gas im eigenen Land zu fördern. Für die Erschliessung alternativer Quellen wie Flüssiggas (LNG) müsste eine Versorgungsinfrastruktur aufgebaut werden, die sich nur lohnt, wenn sie auch jahrzehntelang genutzt wird.
Nach Schätzungen der IEA könnte Europa seine russischen Gasimporte bis nächsten Winter um die Hälfte reduzieren. Dazu wäre mehr Gas aus Aserbaidschan, Norwegen und Algerien nötig, mehr Flüssiggas und die Reparatur undichter Pipelines (was auch willkommene Klimaschutzeffekte hätte).
Mit einer Rationierung von Strom könnte auf russisches Gas sogar komplett verzichtet werden. Das Auffüllen der Gasspeicher aus Quellen ausserhalb Russlands würde allerdings laut Aurora Energy Research bis zu 100 Milliarden Euro kosten.
Keiner der Vorschläge zu Erdgas ist so ehrgeizig wie das, was die EU selbst in Erwägung zieht: Etwa 102 der 155 Milliarden Kubikmeter zu ersetzen, die sie dieses Jahr aus Russland importiert hätte. Stattdessen müsste viel LNG beschafft werden, das allerdings auch in Japan und China begehrt ist.
Nach Berechnungen von Bloomberg würde eine drastische Verringerung oder der Verzicht auf fossile Brennstoffe aus Russland die EU rund 200 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Das ist weniger als das, was die EU im Rahmen ihrer Green-Deal-Politik jährlich in Energieinfrastruktur investieren will.
Wird das Putin schwächen?
Die Europäer, die den Angriff Russlands auf die Ukraine in blutigen, herzzerreissenden Details verfolgen, eint der Wunsch zu helfen. Konkret kann jeder Putins Streitkräfte schwächen: durch den Verbrauch von weniger Strom, weniger Gas zum Heizen und weniger Benzin für das Auto.
Ein Herunterdrehen der Thermostate um 1 Grad Celsius in Europa würde die Nachfrage nach russischem Gas in diesem Jahr um 7 Prozent senken, so die IEA. Ein zügiger Austausch von Gaskesseln durch Wärmepumpen und die bessere Wärmedämmung von Häusern würden ebenfalls helfen. Die Bürger werden ihren Teil beitragen müssen.
"Wenn Sie nicht gegen den Klimawandel vorgehen wollen, dann tun Sie es gegen Putin", sagte Claude Turmes, der luxemburgische Energieminister, letzte Woche auf einem Panel.
Rationierung wäre eine extreme Massnahme. Während der Ölkrise in den 1970er Jahren durften in den USA nur Autos mit geraden Nummernschildern an geraden Tagen tanken. Die Briten erhielten nach dem Zweiten Weltkrieg Tankgutscheine. In Deutschland erinnert man sich an den autofreien Sonntag.
Rationierung sei das Einverständnis, dass man an der Heimatfront Opfer bringen muss, damit man an der Front erfolgreich sein kann, sagt Meg Jacobs von der Princeton University. Damit knüpfe man "Opfer an die Bewahrung der Demokratie". Genau das tut derzeit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Längerfristig könnte eine schnellere Elektrifizierung des Verkehrs den Ölverbrauch senken. In Norwegen etwa machen Elektrofahrzeuge dank starker Anreize bereits 15 Prozent der Autos auf den Strassen aus. Der Ölverbrauch des Landes ist gegenüber 2011 um 10 Prozent gesunken.
Schnelle grüne Lösungen
"Der längerfristige Ausweg besteht darin, unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen so schnell wie möglich zu senken", sagt Michael Bradshaw, Professor für globale Energie an der University of Warwick. Von allen verfügbaren grünen Lösungen lässt sich das Tempo bei der Solarenergie am einfachsten erhöhen. Paneele sind leicht zu installieren, Dächer in ganz Europa bieten Platz. Lediglich Genehmigungsverfahren müssten vereinfacht werden.
Eine Beschleunigung der Verfahren, eine Pflicht für Modulen auf neuen Häusern und die Gewährleistung, dass produzierter Solarstrom, auch verkauft werden kann, würden nach Schätzungen von BloombergNEF ausreichen, um die Installation von bis zu 45 Gigawatt Solarstrom in diesem Jahr zu initiieren, genug für Millionen Haushalte.
Bei Windkraft wird es schwieriger. Der Bau von Turbinen dauert länger und die Branche hat bereits jetzt Probleme mit ihren Lieferketten. Dennoch würde eine Reform der Genehmigungsverfahren längerfristig viel nützen.
Auch über die Priorisierung von Grossprojekten könnte man die Kapazität relativ schnell erhöhen. Würde Deutschland etwa seine letzten drei Kernreaktoren weiterlaufen lassen, die Ende 2022 abgeschaltet werden sollen, könnte das den Gasverbrauch des Landes in den nächsten zwei Jahren um etwa 3 Prozent senken, schätzt Bloomberg.
Langfristig saubere Energie
Neben kurzfristigen Massnahmen muss Europa auch in neue Technologien investieren, um sich von fossilen Brennstoffen verabschieden zu können. Die Rolle von Gas und Kohle als Reserven bei Bedarfsspitzen müsste von Batterien übernommen werden - jedoch nicht nur in Elektroautos, sondern in Form von reinen Energiespeichern.
Europa hinkt in Sachen Netzbatterien hinterher - in Kalifornien oder Australien wird viel mehr Speicherkapazität hinzugefügt, unterstützt von der Politik. Entscheidend ist, dass es sich um Batterien im Netzmassstab handelt. Diese müssen nicht notwendigerweise auf der Lithium-Ionen-Technologie basieren, die etwa in Autos verwendet wird.
"Grüner" Wasserstoff aus erneuerbaren Energien ist nach dem Anstieg der Gaspreise relativ gesehen billiger geworden. Eine solche Anlage, in der Elektrolyseure Wasser in Wasserstoff- und Sauerstoffatome spalten, zu planen und zu bauen, dauert laut Meredith Annex, Analystin bei Bloomberg, lediglich zwei Jahre.
Die bestehende Nachfrage Europas nach aus Erdgas hergestelltem Wasserstoff könnte jedoch nur mit riesigen Mengen Ökostrom gestillt werden.
Womöglich braucht es dann auch mehr der massiven Kabel, um Windstrom aus Nordeuropa in die Städte weiter südlich zu transportieren oder durch das Mittelmeer, um Solarstrom von Tunesien und Ägypten nach Italien und Griechenland zu bringen.
Problem: alle derzeitigen Produktionskapazitäten für grosse Kabel sind schon vergeben, sagt Christopher Guerin, Vorstandsvorsitzender des französischen Herstellers Nexans SA. Ein grosses Kabel herzustellen für eine Trasse etwa quer durch die Nordsee kann drei Jahre dauern und benötigt Rohstoffe wie etwa Kupfer, die nicht beliebig zur Verfügung stehen. Wenn der politische Wille da ist, könnte die Branche jedoch anfangen, entsprechend zu investieren.
"Nichts ist unmöglich", sagte Guerin. "Es ist alles eine Frage von Zeit und Investitionen."
(Bloomberg)