Donald Trump rührt mit seiner Kehrtwende in der Lagebeurteilung des Ukraine-Kriegs an einer alten Wunde Russlands und seines Staatsoberhaupts Wladimir Putin. Trump, der der Ukraine bisher einen Verzicht auf von Russland eroberte Territorien nahegelegt hatte, erklärte am Dienstag überraschend, mit Unterstützung von EU und NATO könne die Ukraine ihre Gebiete vollständig zurückerobern. Denn Russland stecke in grossen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und erweise sich als «Papiertiger». «Russland führt seit dreieinhalb Jahren ziellos einen Krieg, den eine wirkliche Militärmacht in weniger als einer Woche gewonnen hätte», ätzte Trump auf seiner Plattform «Truth Social» und provozierte damit am Mittwoch prompten Widerspruch aus Moskau.
Der republikanische US-Präsident schlug in dieselbe Kerbe wie bereits sein demokratischer Vorgänger Barack Obama vor mehr als zehn Jahren im gleichen Zusammenhang. 2014 hatte Obama angesichts der Besetzung der Krim durch russische Kräfte erklärt, Russland bedrohe seine unmittelbaren Nachbarn, jedoch nicht aus einer Position der Stärke, sondern aus Schwäche. Russland sei lediglich eine «Regionalmacht», hatte Obama gesagt und damit den Weltmachtanspruch des atomar bewaffneten Landes und ständigen UN-Sicherheitsratsmitglieds zurückgewiesen. Bereits dies hatte in Russland für Verstimmung gesorgt.
Seit der Auflösung der von Russland dominierten Sowjetunion sieht sich die Regierung in Moskau regelmässig herausgefordert, Russlands angekratztes Selbstbild zu polieren - vor allem in Konkurrenz zum alten Rivalen USA. Nachdem die beiden dominierenden Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und Führungsmächte im Kalten Krieg auf Augenhöhe die globale Ordnung bestimmt hatten, hat Russland den mit dem wirtschaftlichen Niedergang der Sowjetunion einsetzenden Machtverlust nie verwunden. Putin bezeichnete deren Zerfall gar als «grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts».
Immer wieder pocht die russische Führung auf Russlands Rolle als eine der fünf offiziellen Atommächte neben den USA, Grossbritannien, Frankreich und China. Wiederholt beklagte Putin die Westorientierung ehemaliger Mitglieds- oder Satellitenstaaten der Sowjetunion, darunter die baltischen Länder und Polen, als illegitimes Vordringen der von den USA dominierten Nato in die von Russland beanspruchte Einflusssphäre.
«Russland ist ein echter Bär»
Dass Trump, dessen Land die Ukraine seit Jahren militärisch unterstützt, Putin im August mit allen Ehren in Alaska empfangen hatte, war in Russland als gebührende Geste unter ebenbürtigen Akteuren gefeiert worden. Nun zog Putins Sprecher Dmitri Peskow gegenüber dem russischen Sender RBC die jüngsten Äusserungen des oft erratisch agierenden US-Präsidenten ins Lächerliche. Über Trumps «Papiertiger»-Vergleich spottete Peskow, Russland sei «keineswegs ein Tiger», sondern werde traditionell mit dem Bären assoziiert. «Papierbären gibt es nicht. Russland ist ein echter Bär.» Das Wortspiel funktioniert im Russischen genauso wie im Englischen und im Deutschen.
Mit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014, der Unterstützung von Separatisten in der Ostukraine und dem Grossangriff auf die Ukraine im Jahr 2022 versuchte Russlands Präsident Wladimir Putin erklärtermassen, zumindest die Ukraine wieder unter russische Kontrolle zu bekommen. Zur Begründung sprach Putin den Ukrainern eine nationale Eigenständigkeit ab und griff damit eine in Russland traditionell verbreitete Ansicht auf.
«Zweitgrösste Armee»
Allerdings blieben Russlands militärische Erfolge in der Ukraine wiederholt hinter den Erwartungen zurück. Zunächst gelang es der Ukraine, den russischen Vormarsch auf die Hauptstadt Kiew zu stoppen und russische Truppen aus Teilen des Landes zu vertreiben. Später geriet die vom Kreml vorgeschickte Privatarmee des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin ausser Kontrolle der russischen Führung: Die sogenannte Gruppe Wagner nahm 2023 die russische Stadt Rostow am Don ein und setzte die dort stationierte Militärführung fest. Der Aufstand brach jedoch bald zusammen. Prigoschin starb später unter ungeklärten Umständen bei einem Flugzeugabsturz.
Das Auseinanderfallen von Machtanspruch und Realität sorgte selbst in Russland für Spott, der auch Kritik an der eigenen Militärführung zum Ausdruck brachte. Nach dem russischen Teilrückzug aus der Ukraine und Prigoschins Aufstand entstand das Bonmot, die russische Armee sei ehemals die zweitstärkste der Welt gewesen, später lediglich die zweitstärkste in der Ukraine - und dann nur noch die zweitstärkste in Russland.
(Reuters/cash)