Die Antwort auf die Frage der Divergenz zwischen langsam steigenden Löhnen und Rekordbeschäftigung wird entscheidend dazu beitragen, ob die Fed die Inflation senken kann, ohne der Beschäftigung und der Konjunktur zu schaden. Wenn der Schub bei Löhnen und Gehältern weiter nachlässt, obwohl die Arbeitgeber ungebremst neue Mitarbeiter einstellen, sehen sich die Notenbanker womöglich weniger gezwungen, die Zinsen zur Eindämmung der Inflation immer weiter in den restriktiven Bereich zu heben.
Das derzeitige Paradox: Die Arbeitslosenquote in den USA ist auf den niedrigsten Stand seit mehr als einem halben Jahrhundert gesunken, was den Arbeitnehmern eigentlich einen größeren Hebel geben dürfte, höhere Löhne zu fordern. Ein wichtiges Barometer für Löhne und Sozialleistungen ist jedoch rückläufig. Jared Bernstein, Wirtschaftsexperte im Weißen Haus, sieht darin ein echtes “Rätsel”.
Preisdruck dürfte erst bei Schwächung des Arbeitsmarktes nachlassen
Angesichts nachlassender Lieferkettenprobleme hat Powell den Arbeitsmarkt als wichtige Quelle für Inflationsrisiken ins Visier genommen. Er hält die Lohnanstiege für zu stark, um mit dem 2%-Inflationsziel vereinbar zu sein und unterstrich dabei die Bedeutung von Dienstleistungssektoren wie dem Gesundheitswesen und der Gastronomie.
Viele Ökonomen sind der Meinung, dass der Preisdruck nur bei einer ernsthaften Schwächung des Arbeitsmarktes schwinden wird. Es gibt jedoch ein weiteres Szenario, das in den Fokus rückt: die umgekehrte Lohn-Preis-Spirale. Und das könnte die beste Chance für die von Powell angestrebte “weiche Landung” sein, bei der die Inflation ohne schmerzhafte Rezession zurückgeht.
Der Chefvolkswirt von Moody’s Analytics, Mark Zandi, geht davon aus, dass die Verlangsamung des Lohnwachstums auf eine Abschwächung der Inflationserwartungen der Arbeitnehmer und ihrer Arbeitgeber zurückzuführen ist. Er verweist auf die gesunkenen Benzinpreise und die erwarteten Auswirkungen der aggressiven Fed-Zinserhöhungen. Diese führten zu niedrigeren Annahmen über die Lebenshaltungskosten - und damit zu gedämpften Lohnforderungen. Das wiederum bedeute weniger Druck auf die Unternehmen, die Preise zu erhöhen. Die Folge für die Fed wäre, dass sie den Arbeitsmarkt weniger stark drosseln müsste, um die Inflation einzudämmen.
“Eine Verlangsamung des Lohnwachstums ohne nennenswerten Anstieg der Arbeitslosenquote bringt uns einen Schritt näher an eine weiche Landung”, erklärte Sinem Buber, Ökonom beim Stellenvermittlungsportal ZipRecruiter. Der von der Fed genau beobachtete Arbeitskostenindex weist seit drei Quartalen in Folge geringere Zuwächse aus. Auch beim durchschnittlichen Stundenverdienst der Arbeitnehmer hat sich der Aufwärtstrend verlangsamt. Im Januar gab es ein Plus von 4,4% gegenüber dem Vorjahr, nach 5,9% im vergangenen März.
Die Arbeitslosigkeit in den USA ist indessen auf dem niedrigsten Stand seit 1969. Die Zahl der offenen Stellen ist fast doppelt so hoch wie die der Arbeitssuchenden. Zandi argumentiert, dass der Grund für die überproportionalen Lohnerhöhungen vor einem Jahr der Inflationsschub infolge der Pandemie war, der durch den Einmarsch Russlands in der Ukraine noch verstärkt wurde.
Angesichts der Teuerung bei Benzin und anderen Güter des täglichen Bedarfs hätten die Arbeitnehmer auf höhere Löhne gedrängt. Mit dem Rückgang der Inflationsrate dürfte die Erwartungshaltung in Bezug auf Lohnsteigerungen nachlassen, so der Ökonom.
(Bloomberg)