An den Regalen der ukrainischen Supermarktkette Nowus in Kiew lässt sich der Verlauf des russischen Krieges gegen das benachbarte Land gut ablesen. Als der Angriff vor gut einem Jahr begann, leerten sie sich schnell. Lieferketten im Inland und in Übersee brachen zusammen, frische Produkte wurden knapp, Panikkäufe rissen Löcher in das Angebot. "Im Februar und März wurden unsere Läden zu mehr als nur einem Ort, an dem man Lebensmittel kaufen konnte", sagt Nowus-Manager Olexij Panasenko. "Sie waren ein Ort der Begegnung, Inseln der Stabilität." Inzwischen sind die Regale wieder gut gefüllt.

Nachdem der ukrainische Widerstand die russische Armee im Frühjahr zum Rückzug aus der Hauptstadt zwang, erholten sich der Einzelhandel und die Wirtschaft insgesamt. Daten der European Business Association der Ukraine, in der mehr als 1000 ausländische und ukrainische Unternehmen zusammengeschlossen sind, belegen dies. Ende Mai hatten bereits 47 Prozent der Mitgliedsbetriebe ihren Betrieb vollständig wieder aufgenommen, weitere 50 Prozent arbeiteten mit Einschränkungen.

Doch dann begannen im Oktober die Raketenangriffe. Russland attackiert seither Stromnetze und Umspannwerke, was zu Stromausfällen führte und die Schwerindustrie hart traf. Die Wirtschaft brach auch deshalb im vergangenen Jahr um ein Drittel ein - der stärkste Rückgang seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991. Im zweiten Kriegsjahr droht zwar ein weiteres Minus, doch in einem weitaus geringeren Ausmass. Die Prognosen der Ökonomen reichen von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um fünf Prozent bis hin zu einem leichten Wachstum, wie eine Reuters-Umfrage zeigt.

Eine zuverlässige Energieversorgung bleibt ein grosses Hindernis. Wie stark Stromausfälle belasten, zeigt sich am Beispiel von ArcelorMittal Krywyj Rih, dem grössten ukrainischen Stahlwerk. Dessen energieintensive Produktion liegt eigenen Angaben derzeit bei nur etwa 25 Prozent des Vorkriegsniveaus. Um sich gegen flächendeckende Stromausfälle zu wappnen, wurden nach Angaben des Wirtschaftsministeriums im vergangenen Jahr 669.400 Generatoren importiert. Manager Panasenko sagt, dass 52 der 82 Nowus-Filialen bereits mit Generatoren ausgestattet seien. "Wir sehen, dass sich kleine und mittlere Unternehmen recht schnell an die Stromausfälle anpassen, indem sie Generatoren, Batterien und andere Ausrüstung kaufen, während die Schäden an der Infrastruktur moderat bleiben", sagt Olena Bilan, Chefvolkswirtin des Investmenthauses Dragon Capital.

Kaputte Infrastruktur

Bereits im Sommer äusserten sich Regierungsvertreter zuversichtlicher zur Konjunktur, insbesondere nach dem von den Vereinten Nationen ausgehandelten Getreideexportabkommen. Dieses rettete die Landwirtschaft, die vor dem Krieg rund zwölf Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachte und für etwa 40 Prozent der Exporte steht. Allerdings: Mitte Februar brachen die Getreideexporte für die Saison 2022-2023, die von Juli bis Juni dauert, um 29,3 Prozent auf 29,7 Millionen Tonnen ein.

Ein massiver Anstieg der Militärausgaben, einschliesslich der Löhne für die Armeeangehörigen, hat die Wirtschaft ebenfalls angekurbelt, sagt Witaly Wawrischtschuk vom Investmenthaus ICU. Nach Angaben des Nationalen Sicherheitsrates gab die Ukraine im vergangenen Jahr rund 1,5 Billionen Griwna (rund 40 Milliarden Euro) für ihren Verteidigungssektor aus. Das entspricht etwa einem Drittel der Wirtschaftsleistung. Auch sind Dutzende Milliarden Dollar an ausländischer Hilfe geflossen, um das Haushaltsdefizit auszugleichen und die ukrainischen Streitkräfte aufzurüsten.

Investitionen geplant

Die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Geberländer aufgerufen, noch in diesem Jahr mit der Planung für den Wiederaufbau zu beginnen. Die Rahmenbedingungen dafür sind alles andere als gut. Zwischen 40 und 60 Prozent des Energiesektors sind beschädigt. Geschäftsverhandlungen werden aus Sicherheitsgründen oft in Bunkern abgehalten.

Der Stahlsektor, traditionell ein wichtiger Pfeiler der Wirtschaft, ist mit am stärksten betroffen. Vor dem Krieg war die Ukraine der 14. grösste Stahlproduzent der Welt. Zwei führende Stahlproduzenten, Asowstal und MMK Illitscha in Mariupol, wurden zerstört und sind offiziell pleite. Diejenigen, die übrig geblieben sind, haben mit Stromausfällen zu kämpfen. "Sie sind für Unternehmen wie uns ein grosses Problem", sagt Manager Mauro Longobardo von ArcelorMittal Krywyj Rih.

Das Lager in Krywyj Rih, etwa 400 Kilometer südöstlich von Kiew gelegen, wurde Anfang Dezember von drei russischen Raketen getroffen. Ein Arbeiter wurde getötet, sagt Longobardo. Die Bergbauanlage von Arcelor in einem befreiten Gebiet ist mit Landminen übersät, die zugehörige Infrastruktur beschädigt. Auch die Logistik bereitet dem Unternehmen, das früher bis zu 80 Prozent seiner Produktion exportierte, Kopfzerbrechen. Russland blockierte die Schwarzmeerhäfen, Longobardo musste neue Exportrouten durch Polen ausarbeiten. Trotzdem will Arcelor, der grösste ausländische Investor in der Ukraine, bleiben. Der grösste Arbeitgeber in Krywyj Rih, dem Geburtsort von Selenskyj, hat seine 26'000 Mitarbeiter trotz des Produktionsrückgangs weiter beschäftigt. Longobardo sagt, Arcelor werde in diesem Jahr 130 Millionen Dollar investieren.

(Reuters)