Nach Angaben von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ist es äusserst wahrscheinlich, dass eine ukrainische Luftabwehrrakete versehentlich auf dem Gebiet des EU- und Nato-Landes Polen eingeschlagen ist. Der Vorfall hat aber die Kernregelungen des Nato-Vertrages in den Vordergrund gerückt. Es folgt eine Übersicht:

Artikel 4: Die Konsultation

Artikel 4 sieht engere Konsultationen der Mitglieder der Militärallianz vor, wenn die Sicherheit eines von ihnen bedroht ist. "Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist."

Nach Angaben des Bündnisses wurde Artikel 4 seit der Nato-Gründung 1949 sieben Mal genutzt. Zuletzt beantragten Bulgarien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und die Slowakei am 24. Februar 2022 wegen des russischen Einmarsches in der Ukraine Konsultationen nach Artikel 4.

Artikel 5: Der Bündnisfall

Artikel 5 des Nato-Vertrags ist der Eckpfeiler des Bündnisses. Dem Artikel zufolge wird ein Angriff auf einen der Nato-Verbündeten als Angriff auf die gesamte Allianz angesehen. In der Charta heisst es im Wortlaut: "Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird".

Weiterhin vereinbaren die Unterzeichner, "dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Massnahmen, einschliesslich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten".

Kein Automatismus 

Nach einem Angriff auf einen Mitgliedstaat kommen die NATO-Staaten zusammen, um zu entscheiden, ob sie den Sachverhalt gemäss Artikel 5 einordnen wollen. Somit handelt es sich bei der Umsetzung des Artikels nicht um einen Automatismus. Zudem ist die Dauer solcher Konsultationen nicht zeitlich begrenzt. Nach Ansicht von Experten ist die Formulierung flexibel genug, dass jedes Mitglied selbst entscheiden kann, wie weit es bei der Reaktion auf einen bewaffneten Angriff gegen ein Bündnismitglied gehen will.

Erinnerung an 9/11

Die NATO hat bisher einmal den Bündnisfall als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington ausgerufen.

Der Krieg in der Ukraine 

US-Präsident Joe Biden betont, dass die USA kein Interesse an einem Krieg gegen Russland hätten. Er hat jedoch seit Beginn der russischen Invasion mehrmals wiederholt, dass Washington seinen Verpflichtungen gemäss Artikel 5 zur Verteidigung der Nato-Partner nachkommen werde. "Amerika ist gemeinsam mit seinen Nato-Verbündeten bereit, jeden einzelnen Zentimeter des Nato-Gebiets zu verteidigen. Jeden einzelnen Zentimeter", sagte Biden im September im Weissen Haus. Zuvor hatte er erklärt, es bestehe "kein Zweifel", dass seine Regierung Artikel 5 einhalten werde. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz hat wiederholt betont, dass die Verbündeten im Falle eines Angriffes jeden Zentimeter des Nato-Territoriums verteidigen würden. 

(Reuters)