Die russische Wirtschaft wird voraussichtlich bis Ende 2024 um 3,9 Prozent wachsen, wie aus dem aktuellen Entwurf des Finanzministeriums hervorgeht. Anschliessend rechnet das Ministerium damit, dass sich das Wachstum verlangsamt und sich von 2025 bis 2027 auf 2,5 Prozent bis 2,8 Prozent stabilisiert, bevor es sich von 2028 bis 2030 schrittweise auf 3,0 Prozent bis 3,2 Prozent jährlich beschleunigt.

Dabei ist der Krieg in der Ukraine möglicherweise das Einzige, was Russlands Wirtschaft über Wasser hält. Laut Jay Zagorsky, Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Boston University's Questrom School of Business, bewahrt die Invasion in der Ukraine das Land wahrscheinlich vor einer Rezession. Der hohe Militärhaushalt stützt die schwächelnde Wirtschaft, ist jedoch nur eine vorübergehende Lösung für Moskaus wachsende Probleme, erklärte er gegenüber dem Nachrichtenportal Business Insider. Zu den Herausforderungen für den Kreml gehören steigende Inflation sowie anhaltende Währungs- und Haushaltsprobleme.

«Die russische Wirtschaft wird derzeit durch hohe Staatsausgaben gestützt, sodass es in keinem Wirtschaftssektor, in dem die Regierung einkauft, zu einer Verlangsamung kommt“, sagte Zagorsky und bezog sich auf Käufe von Uniformen, Stiefeln, Munition und Lebensmitteln seitens des Kremls im Rahmen der Kriegsanstrengungen gegen die Ukraine. «Ohne Krieg, ja, es gäbe eine sofortige Rezession.»

Seit Februar 2022 führt Russland einen gross angelegten Angriffskrieg gegen die Ukraine. Bereits seit 2014 herrscht Krieg im Osten des Landes, der ebenfalls von Russland initiiert wurde. Seitdem kontrolliert Moskau die Gebiete im Donbass.

Yuriy Gorodnichenko, Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der University of California-Berkeley, sieht ebenfalls Probleme für Russland voraus. Berichten zufolge plant das Land, nächstes Jahr eine Rekordsumme von 13,2 Billionen Rubel für den Verteidigungshaushalt bereitzustellen, was die Wirtschaft ankurbeln dürfte. Diese Monsterausgaben können jedoch nicht ewig weitergehen, so Gorodnichenko. «Mit dem Geld der Regierung kann die Wirtschaft über Wasser gehalten werden, aber irgendwann wird das Geld ausgehen, dann müssen sie aufhören, und es wird eine Rezession geben», sagt er dem Nachrichtenportal Business Insider.

An der Währungsfront sind bereits negative Vorzeichen erkennbar. Der Rubel steht wieder bei etwa 93 pro Dollar, womit die psychologisch wichtige Marke von 100 Rubel pro Dollar näher rückt. Angesichts der umfassenden internationalen Sanktionen im fast zweijährigen Krieg gegen die Ukraine hat sich der Wechselkurs zunehmend zu einem Barometer für den Zustand der russischen Wirtschaft entwickelt. Er ist auch eine kritische Variable für den Haushalt, der im nächsten Jahr mehr für das Militär vorgesehen hat als für jeden anderen Budgetposten.

Kursentwicklung des Rubels gegenüber dem Dollar.

Zahlreiche wirtschaftliche Probleme

In Russlands Wirtschaft gibt es zahlreiche Warnsignale. Die Inflation ist eines der grössten Probleme, so Zagorsky. Laut dem russischen Statistikamt sind die Konsumentenpreise im August im Vergleich zum Vorjahr um 9 Prozent gestiegen. Zagorsky vermutet jedoch, dass die tatsächliche Inflation noch höher sein könnte. Im September erhöhte die Bank von Russland die Zinssätze auf 19 Prozent, den höchsten Stand seit Beginn der Invasion in der Ukraine, was auf dringende wirtschaftspolitische Massnahmen hinweist.

«Das deutet für mich darauf hin, dass die Inflation tatsächlich höher sein könnte und möglicherweise zu niedrig angegeben wird», sagte Zagorsky und verwies auf die Praxis der Sowjetunion, während des Kalten Krieges ihre Inflationszahlen zu niedrig anzusetzen. Zusätzlich plagen Währungsprobleme die russische Wirtschaft, so Gorodnichenko. Der eingeschränkte Zugang Russlands zum Dollar infolge der westlichen Sanktionen hat Moskaus Handelsmöglichkeiten, insbesondere bei Erdöl und Erdölprodukten, stark beeinträchtigt.

Russland hat auf alternative Währungen wie den chinesischen Yuan zurückgegriffen, um seine Bilanz aufzubessern und den Handel aufrechtzuerhalten. Doch auch der Renminbi wird knapp, da chinesische Unternehmen zunehmend zögern, mit Russland zu handeln, aus Angst vor Sekundärsanktionen durch die USA und andere westliche Staaten. 

«Russland tätigt weniger Verkäufe nach China oder erhält weniger für die physischen Mengen, die es nach China liefert. All das trägt zu den wirtschaftlichen Problemen in Russland bei», sagte Gorodnichenko. Er prognostizierte, dass Russland im nächsten Jahr eine schwere Rezession erleben könnte, wenn ihm der Dollar ausgeht. Ob dies im nächsten Jahr der Fall sein wird, bleibt unklar, obwohl er darauf hinwies, dass die Öleinnahmen des Landes gesunken sind, während die Militärausgaben gestiegen sind – teilweise aufgrund fallender Rohölpreise weltweit.

«Russland steht nicht nur einem Rückgang der Nachfrage nach seinem Produkt gegenüber, sondern auch einem dramatischen Preisverfall. Das ist ein doppelter Schlag», sagte Zagorsky. «Die Frage ist, wie lange sich die russische Wirtschaft angesichts dieses starken Gegenwinds noch halten kann.»

Seit dem 1. Januar 2024 ist der Erdölpreis der Sorte Brent um 9 Prozent gesunken und liegt aktuell bei 70,2 Dollar pro Barrel. Auch der Erdgaspreis hat sich auf ein historisch durchschnittliches Niveau und deutlich unter den Stand zu Beginn des Ukraine-Kriegs normalisiert. Ebenso hat sich der Kohlepreis wieder eingependelt.

Langfristig als Verlierer

Die Wahrnehmung, dass sich die russische Wirtschaft besser als erwartet hält, basiert auf einer vereinfachten Betrachtungsweise. In Kriegszeiten taugt die aggregierte Wirtschaftsleistung nur begrenzt als Wohlstandsindikator. Der russischen Bevölkerung bleiben nicht nur kurzfristige Wohlstandsgewinne verwehrt, sie muss sich auch langfristig auf erhebliche Verluste einstellen.

Der Grund liegt auf der Angebotsseite: Die Verdreifachung der Militärausgaben und der höhere Aufwand für die interne Sicherheit verdrängen öffentliche Ausgaben, die für den Erhalt des Produktionspotenzials unabdingbar wären.

Eine Analyse der jüngsten russischen Staatshaushalte, kombiniert mit Inflationsdaten, ergibt laut Experten ein klares Bild: Die Mittel für Bildung, Gesundheit, Infrastrukturentwicklung und ähnliche Bereiche sinken real deutlich. Durch diese Kriegslasten erodiert das Produktionspotenzial der russischen Wirtschaft. Zudem exportiert Russland nach wie vor viel, um den Krieg zu finanzieren, jedoch zu schlechten Preisen. 

Weder Zagorsky noch Gorodnichenko konnten gegenüber Business Insider konkret vorhersagen, wann eine Rezession in Russland beginnen könnte. Das wird letztlich davon abhängen, wie lange der Krieg in der Ukraine – und damit auch die Kriegsausgaben – andauern wird. Gorodnichenko beobachtet genau, ob Russland die Antrittsprämien für rekrutierte Soldaten weiter anhebt. Sollte dies der Fall sein, wäre dies seiner Meinung nach ein Zeichen dafür, dass dem Land die Arbeitskräfte ausgehen und seine Wirtschaft überhitzt ist. «Irgendwann werden sie kritische und sehr unpopuläre Entscheidungen treffen müssen», so das Fazit von Gorodnichenko.

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