Grössere Lagerbestände, näher gelegene Lieferanten und eine verringerte Abhängigkeit von China - Einzelhändler in Europa und den USA haben als Konsequenz aus der Corona-Pandemie mehrere Möglichkeiten ausgelotet, um widerstandsfähige Lieferketten aufzubauen. Nun stossen sie wegen der Krise im Roten Meer auf ein neues Problem. Angesichts der mehrwöchigen Transportverzögerungen haben die Händler nur einen geringen finanziellen Spielraum, um auf Notlösungen wie Luftfracht auszuweichen. Hinzu kommt, dass Verbraucher auf der ganzen Welt wegen der Inflation den Gürtel enger geschnallt haben. Nach Ansicht von Experten entscheiden sich deshalb viele Unternehmen dazu, die höheren Transportkosten selbst zu tragen, anstatt das Risiko von Preiserhöhungen einzugehen.

Der rasante Aufstieg von chinesischen Onlinetextilhändlern wie etwa Shein setzt die europäischen Fast-Fashion-Pioniere wie H&M und die Zara-Mutter Inditex zunehmend unter Druck. Shein wie auch andere chinesische Wettbewerber nehmen entgegen der üblichen Vorgehensweise zuerst kleine Erstaufträge an, die dann je nach Nachfrage aufgestockt werden. Mit dieser flexiblen Lieferkette können sie ein komplett anderes Geschäftsmodell umsetzen als die Modehändler aus Europa. Letztere versuchen vorherzusagen, was besonders stark im Trend liegen wird, und richten ihre Produktion im Vorfeld darauf aus.

Kopf and Kopf in der Mode

Kopfschmerzen bereitet den westlichen Modekonzernen, dass die Konkurrenz aus Asien riesige Mengen an preisgünstiger Kleidung per Luftfracht von China nach Europa und in die USA liefert. Sie müssen ihre Lieferketten deshalb so effizient wie möglich halten. "Wenn eine widerstandsfähige Lieferkette bedeutet, mehr für Waren zu bezahlen, dann geht die Rechnung nicht auf", sagt Matt Clark von der Unternehmensberatung AlixPartners in London. Der Profit der Konzerne stehe vor einer resilienten Lieferkette.

Einige Modekonzerne umgehen das Rote Meer, indem sie ausgewählte Produkte nach Dubai verschiffen, um sie von dort mit dem Flugzeug weiterzubefördern. Doch der Warenversand per Luftfracht sei etwa zehn bis zwölf Mal teurer als mit dem Schiff, sagt Sunandan Ray vom US-Unternehmen Unique Logistics. Für die Billigmodekette Primark rechnet sich Luftfracht nicht, wie der Finanzchef des britischen Mutterkonzerns Associated British Foods darlegt. Zugleich wollen Bekleidungs- und Sportartikelhändler auch eine Überbestückung vermeiden, nachdem sie gerade erst überschüssige Lagerbestände mithilfe hoher Rabatte abgebaut hatten.

Der Grosshändler Intersport Deutschland hat nach Angaben seines Finanzvorstands Thomas Storck hingegen aufgestockt, um die erwarteten zweiwöchigen Verzögerungen aufzufangen. Im Vergleich zum Vorjahr sei der Lagerbestand jedoch deutlich niedriger. Die höheren Transportkosten wolle der Konzern selbst tragen, anstatt sie durch höhere Preise auf Ladenbesitzer oder Verbraucher abzuwälzen. Auch das weltweit aktive schwedische Möbelhaus Ikea will trotz steigender Kosten durch Verzögerungen und Unterbrechungen von Lieferketten die Preise senken.

Nearshoring - Regionales Liefernetz als Alternative

Für Wiederverkäufer gibt es einige wenige Möglichkeiten, steigende Kosten auszugleichen und einen Ausverkauf zu vermeiden. Eine besteht darin, weniger Rabatte zu gewähren als zu einer bestimmen Jahreszeit üblich ist. In den USA lagen die Rabatte im Einzelhandel im Januar bisher bei durchschnittlich 39 Prozent, gegenüber 41 Prozent im Vorjahr, wie aus Daten von LSEG und Centric Market Intelligence hervorgeht.

Eine weitere Strategie für Einzelhändler ist es, stärker auf Lieferanten zu setzen, die näher an ihren Märkten sind. Doch auch hier ist der Kostenfaktor entscheidend. Die schwedische Modekette H&M erhöht eigenen Angaben zufolge ihren Anteil am sogenannten Nearshoring, ohne dabei ein konkretes Ziel zu nennen. Auch Intersport Deutschland strebt in diese Richtung. "Man kann das aber nicht über Nacht tun", sagt Storck. Der Konzern müsse die Kosten berücksichtigen und das, was die Verbraucher bereit sind zu zahlen.

Für europäische Einzelhändler ist der regionale Einkauf in der Regel teurer als die Beschaffung aus China und anderen asiatischen Ländern. Das macht es schwierig, Nearshoring in grossem Stil zu betreiben und dabei wettbewerbsfähig zu bleiben. China sei immer noch das grösste Herkunftsland für Modebekleidung, sagt Laurens Schoningh von Hellmann Worldwide Logistics. "Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist so gut, dass es fast unmöglich ist, den Anteil Chinas an der Gesamtproduktion zu reduzieren."

Auch von Investorenseite gebe es Vorbehalte gegen eine regionale Beschaffung, wenn damit höhere Kosten einhergingen, sagt Portfoliomanagerin Swetha Ramachandran von Artemis Fund Managers, deren Fonds unter anderem an Inditex, Nike und Adidas beteiligt ist. Doch es gebe einen Weg für Unternehmen, ihre Lieferketten zu diversifizieren, ohne unbedingt ihre Gewinnmargen zu opfern. Sie könnten die Mehrkosten des Nearshorings durch eine gesteigerte Effizienz ausgleichen.

(Reuters)