cash.ch: Herr Heller, Anfang April ist der Handelskonflikt eskaliert, inzwischen hat sich die Lage ein Stück weit beruhigt, ausgestanden ist sie aber wohl nicht. Wie lautet Ihr Zwischenfazit?

Thomas Heller: Das Ausmass und die Breite der Zölle haben mich überrascht. Sie betreffen alle, nicht einzelne Länder. Und sie betreffen praktisch alle Produktekategorien und zielen nicht auf spezifische Sektoren ab. Auch die Methode, wie die Zölle berechnet wurden, ist absurd. Zudem hätte ich mir gewünscht, dass man zuerst verhandelt und die Handelsschranken dann hochzieht, wenn die Gespräche scheitern. Nun ist man umgekehrt vorgegangen.

Wie, denken Sie, wird es weitergehen?

Der Markt erwartet, dass die Zölle letztlich nicht bei den Anfang April angekündigten Sätzen, sondern näher bei 10 Prozent liegen werden. Wenn jetzt nichts in diese Richtung geht, muss man mit weiteren Verwerfungen an den Finanzmärkten rechnen.

Haben Sie Hinweise, wohin sich die Zollsätze effektiv bewegen?

Ich habe gelesen, dass die US-Zölle gegenüber China auf für die nationale Sicherheit nicht-kritische Güter 35 Prozent und auf für die nationale Sicherheit kritische Güter 100 Prozent betragen sollen. Das macht im Schnitt 50 bis 65 Prozent. Das ist wahnsinnig viel, und ich sehe nicht, dass der Markt eine solche Zollbelastung einpreist. Deshalb wird das Gröbste in diesem Zollstreit noch nicht vorbei sein.

Inwiefern wird man auf weitere Schocks ausgehend von US-Präsident Donald Trump gefasst sein müssen?

Am Ende des Tages wird Trump auf die Märkte und die Wirtschaft achten. Allein schon im Hinblick auf die Zwischenwahlen in anderthalb Jahren wird er sich wirtschaftsfreundlicher zeigen müssen. Er will ja Steuersenkungen vorantreiben. Sie entlasten die Unternehmen, erhöhen aber die Staatsverschuldung. Das wird eine Gratwanderung.

Die Unsicherheit bleibt erhöht?

Ja, davon gehe ich aus. Die negativen Folgen für die Märkte werden aber nachlassen, sofern weitere Schocks ausbleiben. Die Anleger werden sich allmählich an die neue Lage gewöhnen und vergessen, was nach dem 2. April geschah.

Welche wichtigen Entwicklungen werden ausgeblendet, wenn man sich auf den Zollstreit fokussiert?

Man kann es drehen und wenden, wie man will: In den nächsten Monaten und bis Ende Jahr werden die Zölle das dominierende Thema sein. Noch ist die Konjunktur stabil, noch schreiben die Unternehmen Gewinne, noch sind Zinssenkungen durch die Notenbanken wahrscheinlich - das alles ist positiv. Der grosse und überwiegende Negativpunkt sind und bleiben vorerst die Zölle.

Wie wahrscheinlich ist eine Rezession?

Ich spreche nicht gerne von einer Wahrscheinlichkeit.. Dass eine Rezession mit einer Wahrscheinlichkeit von zum Beispiel 40 Prozent kommt, hilft mir nicht weiter. Eine Rezession kommt oder sie kommt nicht - ganz oder gar nicht. In unserem Hauptszenario gehen wir davon aus, dass die Zölle nicht so arg kommen, wie sie angekündigt wurden. Dann bleibt eine Rezession aus. Schlimm wird es, wenn die Zölle nicht wesentlich tiefer als angekündigt ausfallen.

Falls eine Rezession eintritt: Wird sie global sein oder gibt es Weltregionen, die verschont bleiben?

Wenn sie eintritt, gehe ich von einer breiten Rezession aus. In Europa könnten die Fiskalimpulse - Stichwort: Verteidigungs- und Infrastrukturausgaben - ein Gegengewicht bilden. Fraglich ist, wann diese Stimuli kommen und ob sie ausreichen, um einen grösseren wirtschaftlichen Abschwung abzuwenden. Die USA machen 25 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung aus. Diesem Sog kann sich der Rest der Welt kaum entziehen - auch die Schweiz nicht.

In der Schweiz wird immer wieder von Negativzinsen gesprochen. Wann kommen sie?

Es wird zu weiteren Zinssenkungen kommen, vermutlich bereits im Juni zum nächsten Mal. Dann sind wir schon bei Null. Der Schritt ins Negative ist dann nicht mehr gross, nicht zuletzt, weil auch die Europäische Zentralbank und die Fed die Zinsen weiter senken werden. Interessant ist ja, dass Nationalbankpräsident Martin Schlegel Negativzinsen sehr explizit als Teil des geldpolitischen Werkzeugkastens erwähnt hat. Dass sie dazugehören, ist im Grunde heute klar, wir haben es ja über mehrere Jahre erlebt. Aber dass er sie so explizit erwähnt und die SNB gleichzeitig die Zinsen überraschend früh und teilweise stark gesenkt hat, finde ich einerseits schwer nachvollziehbar, zeigt aber andererseits, wohin die Reise geht. Der Weg in die Negativzinsen ist deutlich vorgespurt. Der Markt preist das auch schon klar ein.

Sollte es soweit kommen: Inwiefern können sich Anleger auf die Erfahrungen der ersten Negativzinsphase der 2010er-Jahre abstützen?

Tatsächlich dürfte es weniger Aufruhr geben wie damals. Die Banken wissen heute, wie sich Negativzinsen auf ihr Geschäft auswirken, und die Anleger kennen die Strategien zum Umgang mit der aussergewöhnlichen Lage.

Aber?

Die Gründe, weshalb es wieder Minuszinsen gibt, werden verunsichern - eine serbelnde Konjunktur und ein wackliges Finanzsystem beispielsweise. Die Ursachen, die dazu führen, sind schwerwiegender als die Negativzinsen an sich.

Wenn Sie alles zusammennehmen: geopolitische Entwicklungen, Konjunkturausblick und Zinsen - wohin geht die Reise eines klugen Anlegers, einer klugen Anlegerin?

Der kluge Anleger hat sich, bevor er überhaupt zum ersten Mal investierte, eine Strategie zurechtgelegt. Ich bin seit 30 Jahren an den Märkten, und da gab es eine Reihe von Krisen, die Tequilakrise, die Asienkrise, das Platzen der Interneblase, die Finanzkrise, Corona. Es hat sich immer ausgezahlt, an der langfristigen Anlagestrategie festzuhalten. Im Zweifel sollte man also nichts tun. Erst bei einem Strukturbruch, sollte man eine grundsätzliche Neuausrichtung vornehmen. Die Zinswende des Jahres 2022 war ein solcher Strukturbruch. Es kann aber auch sein, dass sich die persönliche Lebenslage verändert - die Kinder ziehen aus, man kauft ein Haus, man wird pensioniert oder verkauft seine Firma. Damit ist die zweimonatige Situation mit den Zöllen noch nicht vergleichbar.

Wie ist Ihre Einschätzung zum Schweizer Aktienmarkt?

Der Schweizer Aktienmarkt ist grundsätzlich interessant, vor allem aufgrund seines defensiven Charakters mit den namhaften Werten der Lebensmittel- und der Pharmabranche. Hier gibt es allerdings titelspezifische Risiken, da der Gesamtmarkt stark von drei grossen Unternehmen abhängt. Zudem sind Sektoren, die langfristig profitieren werden, untervertreten - der Technologiesektor zum Beispiel.

Haben Sie eine Prognose zum Schweizer Franken?

Wir machen keine Punktprognosen. Grundsätzlich aber: Im Zweifelsfall muss man davon ausgehen, dass der Schweizer Franken aufwertet. Allein schon die Inflationsdifferenz zwischen der Schweiz und den anderen Währungsräumen spricht dafür. Zudem hat die Schweiz einen riesigen Leistungsbilanzüberschuss. Er generiert eine stete Nachfrage nach Schweizer Franken, wodurch dieser «unterschwellig» laufend einen Aufwärtsdruck verspürt. Längerfristig wird der Franken zum Euro eher bei 0,80 als bei 1,10 Franken stehen. Und zum Dollar werden die Notierungen näher bei 0,70 als bei 1,00 Franken liegen. Auch wenn es zwischendurch natürlich – auch über längere Zeit – in die andere Richtung gehen kann, auf lange Sicht wird der Franken stärker.

Thomas Heller ist seit März 2024 als Chief Investment Officer (CIO) für die Frankfurter Bankgesellschaft Gruppe tätig. Der 58-jährige arbeitet am Schweizer Firmensitz in Zürich, ist aber für die gesamte Gruppe tätig. Heller war zuletzt Anlagechef und Mitglied der Geschäftsleitung von Belvédère Asset Management. Zuvor war er langjährig in führenden Positionen bei der Schwyzer Kantonalbank, der LGT Group und der Julius Bär Asset Management tätig. Der studierte Ökonom sowie eidgenössisch diplomierte Finanzanalytiker und Vermögensverwalter begann seine Karriere als Senior Economist bei der Credit Suisse. Er verfügt über langjährige Erfahrung in der Konjunktur- und Finanzmarktanalyse ebenso wie in der Vermögensverwaltung für private und institutionelle Kunden.

Reto Zanettin
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