Jessica Lenth hat eine lange Odyssee hinter sich. Die 41-jährige Bürokauffrau aus Hamburg leidet seit der Geburt ihres Sohnes vor 16 Jahren an Adipositas. In Spitzenzeiten wog sie 139 Kilogramm bei 170 Zentimetern, aktuell sind es 120 Kilo. Sämtliche Diäten hat sie schon ausprobiert - "aber der Jojo-Effekt hat nicht lange auf sich warten lassen". Auch Sport habe nicht geholfen. Ihre Hoffnungen ruhen auf der Abnehmspritze Wegovy, die jetzt auch auf den deutschen Markt kommt, von den gesetzlichen Krankenkassen aber nicht erstattet wird. Die Alleinerziehende Mutter will sparen, um sich das Medikament leisten zu können. "Das ist eine ganz schöne Stange Geld, die man da ausgeben muss, das habe ich nicht mal ebenso in der Portokasse liegen."
Fachärzte rechnen trotz der immensen Kosten für die Therapie - knapp 302 Euro für die höchste Dosis für vier Wochen - mit hoher Nachfrage. "Wir warten wirklich auf Wegovy", sagt Sylvia Weiner, Leiterin der Klinik für Adipositas Chirurgie und Metabolische Chirurgie am Sana Klinikum in Offenbach. "Die Patienten sind so verzweifelt, dass sie das Medikament aus eigener Tasche zahlen werden." Von den etwa 200 Adipositas-Patienten, die monatlich in ihre Klinik kommen, hätten sich in den vergangenen Monaten rund zehn Prozent nach Wegovy erkundigt. Wenn das Mittel auf dem Markt ist, würden es sicher mehr werden.
Lieferengpässe erwartet
Um die Abnehmspritze, die schon Promis wie Tesla-Chef Elon Musk und Reality-Star Kim Kardashian beim Abnehmen geholfen haben soll, ist ein regelrechter Hype entstanden - auch befeuert durch die sozialen Netzwerke. In den USA musste der dänische Hersteller Novo Nordisk bereits den Zugang für neue Patienten beschränken, da er wegen der hohen Nachfrage mit Lieferengpässen kämpft. Auch in Deutschland könnte der Wirkstoff knapp werden: "Wenn die Nachfrage höher ist als erwartet, können wir Verspätungen und Engpässen in den nächsten Monaten nicht ausschließen", erklärte Novo auf Anfrage.
In Deutschland müssen Kassenpatienten Wegovy selbst zahlen, weil Medikamente zur Gewichtsregulierung von der Erstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen aufgrund eines über 30 Jahre alten Gesetzes ausgeschlossen sind. Privatpatienten, rund zehn Prozent der Versicherten, bekommen Wegovy nach Angaben des Verbands der privaten Krankenversicherungen erstattet, wenn der Arzt es indikationsbezogen verordnet und sofern keine tariflich bedingten Ausschlüsse vorliegen. Der Zugang zu Wegovy ist damit eine Frage des Geldbeutels, auch wenn die Behandlung hierzulande erschwinglicher ist als in den USA. Dort beträgt der Listenpreis rund 1350 Dollar für die höchste Dosis für vier Wochen.
Adipositas-Patienten haben meist einen langen Leidensweg hinter sich. In Deutschland ist fast jeder Fünfte adipös - mehr als der EU-Durchschnitt. "Die Patienten leiden enorm unter der Stigmatisierung, weil sie sich isoliert fühlen, weil es eine sichtbare Erkrankung ist, die zu Unrecht mit Attributen wie Faulheit verknüpft wird", sagt Jürgen Ordemann, Leiter des Adipositaszentrums des Berliner Krankenhausverbunds Vivantes. Er fordert, dass die Therapie erstattet wird, und hofft, dass die Wegovy-Einführung auch zu einem besseren Verständnis für die Erkrankung Adipositas beiträgt. "Das könnte einen erheblichen Einfluss auf zukünftige Gesetzesentscheidungen haben."
«Hammerpreis»
Auch der Facharzt für Viszeralchirurgie Thomas Horbach aus München, wo das durchschnittliche Haushaltseinkommen eines der höchsten in Deutschland ist, erwartet eine starke Nachfrage nach Wegovy. "Menschen mit Übergewicht und leichter Adipositas können davon wirklich profitieren. Aber wir werden auch sehen, dass Menschen aus Lifestyle-Gründen nach dem Medikament fragen werden, nur um ein paar Kilos loszuwerden, was wir auf keinen Fall unterstützen werden." Mit Blick auf den zu erwartenden Gewichtsverlust - laut Studien rund 15 Prozent des Körpergewichts mit Diät und Sport - sprach er von einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis. "Die Mehrheit meiner Patienten findet das akzeptabel."
Jessica Lenth sieht das anders. Sie verweist darauf, dass viele adipöse Menschen durch ihr Übergewicht so hohe Einschränkungen haben, dass sie nicht arbeiten gehen können, "die kriegen Bürgergeld, wie sollen die sich eine Spritze von 300 Euro leisten können?" Als Diabetikerin bekam sie das Diabetesmittel Ozempic von Novo Nordisk verschrieben, das wie Wegovy den Appetit reduzierenden Wirkstoff Semaglutid enthält, allerdings in einer deutlich niedrigeren Dosis. Obwohl sie Ozempic nach drei Monaten wegen Nebenwirkungen wie Aufstoßen und Magenschmerzen absetzen musste, will sie es mit Wegovy versuchen. "Ich renn jetzt seit 16 Jahren mit diesem Übergewicht rum, das ist der Strohhalm, an dem man sich dann klammert."
Für viele Adipositas-Patienten ist eine Magenverkleinerung der letzte Ausweg. Michael Wirtz, Vorstandsmitglied beim Patientenverband Adipositas Hilfe, hat diesen Schritt mit einer Magenbypass-Operation 2011 schon hinter sich. Er ist frustriert, dass er seitdem wieder zugenommen hat und macht dafür seinen stressigen Job als Projektleiter im Tiefbau verantwortlich. Er denkt nun darüber nach, Wegovy zu nehmen - trotz eines "Hammerpreises" wie er sagt - und seinen Lebensstil zu ändern. Um die hohen Kosten zu stemmen, will er vielleicht einige Streaming-Dienste kündigen. "Ohne Wegovy müsste ich mich beruflich umorientieren, um vor allem das Stresslevel zu senken, was natürlich auch mit Gehaltseinbußen verbunden wäre."
(Reuters)