Die Spatzen an der Wall Street pfeifen schon länger von den Dächern: Das Risiko einer Rezession für die amerikanische Wirtschaft schwindet. Und doch bleibt am Anleihemarkt die traditionelle Warnung eines Wirtschaftsabschwungs deutlich sichtbar mit der Umkehrung der Zinsstrukturkurve. Ed Yardeni, ein bekannter Ökonom, hat dafür aber eine Erklärung. Er postuliert, dass die Zinsstrukturkurve die Verlangsamung der Inflation signalisiert, die normalerweise mit einer Rezession einhergeht, aber es in diesem Fall nicht zu einer tatsächlichen Rezession kommt.

Er nennt dies das "Nirvana-Szenario“. Das heisst, dass das Ende der Preiserhöhungen die Konsumausgaben hoch halten wird, kein Anstieg der Arbeitslosigkeit zu befürchten ist oder ein Schock an den Aktienmarkt ansteht. Das äussert sich auf dem Treasury-Markt genauso, wie es eine drohende Rezession tun würde: hohe Renditen für kurzfristige Schulden und niedrigere für längerfristige Anleihen, da Händler damit rechnen, dass die Federal Reserve im nächsten Jahr mit der Zinssenkung beginnen wird. "Die Wirtschaft hat sich als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen und die Fed muss die Zinsen nicht viel höher anheben.“

Das verheisst gemäss Yardeni vor allem für die amerikanischen Aktienmärkte gutes. Er sieht den S&P 500 Index bei 5'000 Punkte Ende 2023 und bei 5'400 Punkten Ende 2024. Aktuell notiert der S&P 500 bei rund 4'555 Punkten. Er schreibt dazu auf seinem Twitter- respektive X-Kanal, dass "der Aktienmarkt zwar heiss gelaufen ist, aber die wirtschaftlichen Aussichten sonnig bleiben." Dabei dürfte der Markt in der Zukunft nicht mehr nur von den Mega-Cap-Techaktien gepusht werden, sondern in einen breiter abgestützten Bullenmarkt übergehen." Anzeichen deuten darauf hin, dass sich die heissesten Sektoren abkühlen und die bisher zurückbleibenden Sektoren outperformen könnten. "Es ist an der Zeit, dass die Nachzügler die Führung übernehmen."

Die Bewertungen hält der ehemalige Chefstratege der Deutschen Bank nicht für übertrieben, auch wenn der S&P 500 ist mit einem erwarteten Kurs-/Gewinnverhältnis (KGV) von 19,5 nicht gerade günstig ist. Die Mega-Cap-8 (die acht grössten Technologie-Aktien) hat ein zukünftiges KGV von 31,2, aber ohne diese hat der S&P der restlichen 492 Unternehmen ein voraussichtliches KGV von 16,7. Noch günstiger sind der S&P 400 und der S&P 600 mit einem KGV von 14,3 bzw. 13,9. Die Mid Caps zeigen Anzeichen einer Verbesserung der relativen Performance, erläutert Yardeni. 

VIX spricht für höhere Aktienkurse

Die erwartete Kurskorrektur Anfang Juni blieb am US-Aktienmarkt aus respektive es kam nur zu einer Minikorrektur von 2 Prozent im S&P 500 Index. Seither geht es an den US-Aktienmärkten wieder aufwärts und der Dow Jones Index hat seit dem 10. Juli an neun Börsentagen hintereinander zulegen können. Dies ist das letzte Mal im November 2017 vorgekommen. Dabei gibt es verschiedene, andere Gründe für die gute Juli-Performance an den Aktienmärkten. 

Einerseits ist der Juli historisch betrachtet ein guter Börsenmonat mit einem durchschnittlichen Anstieg von 0,79 Prozent in den letzten 20 Jahren. Der beste Börsenmonat ist statistisch betrachtet der April mit einem Plus von 1,59 Prozent. Ebenso ist zu beachten, dass die US-Unternehmen während der aktuellen Berichtssaison keine eigenen Aktien zurückkaufen dürfen. Dieses Fenster öffnet sich Ende Juli wieder und die Aktienrückkäufe dürften die Kurse unterstützen. 

Zudem ist die Volatilität sehr tief. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass sich die US-Börsen in einem Aufwärtstrend befinden, erklärt Nick Colas von Datatrek. Colas beschäftigt sich seit den 1990er-Jahren mit der Entwicklung des Volatilitätsindex VIX, der die Schwankungsanfälligkeit des S&P 500 Index misst. Der langfristige Durchschnittswert des VIX liegt bei 20 gegenüber dem aktuellen Stand von 14 Punkten. Das bedeutet, dass am Markt keine grossen Schwankungen erwartet werden und dies wird von Strategen als sehr positives Zeichen gewertet. Dies führt zum Beispiel dazu, dass Hedge Funds, die auf schwankungsarme Bewegungen am Markt setzen, im derzeitigen Marktumfeld die Aktienquoten hochfahren. Gemäss Goldman Sachs dürften diese Investment-Vehikel diese Woche Aktien für 58 Milliarden Dollar Aktien zukaufen. 

Eine weitere Strategie der Investoren am Derivatemarkt ist, dass diese eintägige Put-Optionen verkaufen und mit dem investierten Geld langfristige Call-Option kaufen, wie die Investmentbank Nomura in einem Kommentar festhält. Diese Strategie war in den vergangenen Wochen sehr erfolgreich und hat dazu geführt, dass grössere Korrekturen am Aktienmarkt ausblieben. Dies, weil bei dieser Strategie die Market Maker ihre Aktienbestände ausbauen müssen. Entsprechend dürfte dieser Trend so weitergehen, getreu dem Motto, der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht. 

VIX als Absicherung gegen Rezessionsrisiko

Viele Anleger trauen der Rally an den Aktienmärkten allerdings immer noch nicht über den Weg und halten sich zurück. Das zeigt erneut die jüngste Umfrage bei institutionellen Investoren von Morgan Stanley. Deren Stratege Mike Wilson, welcher seit Jahresbeginn sinkende US-Aktienkurse erwartet hatte, musste denn auch zurückbuchstabieren und hat gestern in einer Kundennotiz erklärt, dass er mit seinem Ausblick falsch lag. Wilson hält aber an seiner Prognose fest, dass der S&P 500 dieses Jahr noch auf 3'900 sinken wird. Denn das Risiko ist noch nicht ganz gebannt, dass die USA in eine Rezession abdriftet. 

Was können Anleger tun, um sich gegen einen Kursrückschlag im Falle einer wider Erwarten auftretenden Rezession abzusichern? Eine Möglichkeit ist, den VIX in Schwächephasen im Bereich von 10 bis 12 Punkten zu kaufen, mit einem Anteil am Portfolio von 5 bis 10 Prozent je nach Risikotoleranz. Denn sollte es zu einer deutlicheren Korrektur wie im Szenario von Wilson kommen, so dürfte der VIX wieder auf ein Niveau von 20 bis 26 Punkten steigen.

Umgerechnet ergibt sich damit ein Verlust auf den Aktien von 10 Prozent, aber ein Gewinn von 80 bis 100 Prozent auf dem VIX. Trifft dieses Szenario ein, so könnte der Kursverlust auf dem totalen Portfolio nahezu halbiert werden. Setzt die Börse dagegen ihren Aufwärtstrend wie von Yardeni erwartet fort, partizipiert der Anleger zu grossen Teilen am Kursanstieg - dies auch, weil der VIX respektive das erworbene Zertifikat auf den VIX nicht auf null sinken kann. Der tiefste Wert im VIX wurde im November 2017 bei 8,27 Punkten gemessen - genau zu dem Zeitpunkt, als der Dow Jones Index vor der jüngsten Episode neun Tage in Folge gestiegen ist.

Thomas Daniel Marti
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