Für Anlegerinnen und Anleger an der Schweizer Börse ist der Oktober ein Lichtblick in einem ansonsten katastrophalen Aktienjahr 2022. Der Swiss Market Index (SMI) hat in den letzten vier Wochen knapp 6 Prozent gewonnen und damit das Kursminus seit Jahresbeginn immerhin auf 17 Prozent verringert. Titel wie Sika, ABB oder Sonova haben sich im Weinmonat um bis zu 18 Prozent erholt.

Kursentwicklung des SMI seit Jahresbeginn (Quelle: cash.ch).

"Die aktuelle Rallye auf den Aktienmärkten wird von der erneuten Hoffnung auf eine Wende der Zentralbanken angetrieben," sagt Mathieu Racheter, Aktien-Chefstratege bei der Bank Julius Bär, zu cash.ch. Für Rückenwind am Aktienmarkt sorgte im Oktober nebst dem hoffnungsvollen und wohl kurzlebigen geldpolitischen Narrativ auch die angelaufene Berichtssaison.

Eine Mehrheit der bislang an die Öffentlichkeit getretenen Unternehmen hat die Erwartungen übertroffen - diese wurden im Vorfeld aber stark zurückgestutzt. Bereits liest man, dass Anlegerinnen und Anleger Angst davor haben, eine Jahresend-Rally zu verpassen.

«Der Schweizer Aktienmarkt befindet sich weiterhin in einem Bärenmarkt»

Doch Vorsicht, die Ausgangslage an den Märkten hat sich nicht wirklich verbessert. "Der Schweizer Aktienmarkt befindet sich - wie die globalen Märkte auch - weiterhin in einem Bärenmarkt", sagt Raiffeisen-Anlagechef Matthias Geissbühler. Die weltweit rekordhohe Inflation, die restriktivere Geldpolitik sowie die zunehmenden Rezessionssorgen werden die Börsen auch zukünftig belasten.

Auch Racheter von Julius Bär glaubt, dass die Hoffnungen auf einen nachhaltigen Aufschwung noch verfrüht sind: "Die geldpolitische Straffung muss erst noch verdaut werden. Sie wird das globale Wirtschaftswachstum wahrscheinlich belasten" und werde die Richtung der Märkte weiter bestimmen. Die Aktienbewertungen sind parallel zu den gestiegenen Realrenditen gesunken. Dieser Prozess ist aber laut Racheter bereits im fortgeschrittenen Stadium.

Obwohl die steigenden Zinsen für Geissbühler mittlerweile weitestgehend eingepreist sind, sieht er weiterhin grosse Abwärtsrisiken. "Wir befinden uns mitten im Bärenmarkt. Historisch betrachtet korrigierten die Börsen in einem klassischen Bärenmarkt zwischen 30 bis 35 Prozent." Die Gewinnschätzungen für 2023 seien immer noch viel zu hoch. Komme es zu einer tieferen Rezession, drohe ein Gewinnrückgang auf Indexebene von 15 bis 20 Prozent.

Die Bewertungskorrektur am Schweizer Aktienmarkt aufgrund des starken Zinsanstiegs sei zu einem grossen Teil abgeschlossen, die Gewinnkorrektur habe aber erst vor kurzem begonnen, warnt auch Pictet-Chefstratege Anastassios Frangulidis. Die Gewinnentwicklung der Unternehmen werde die Aktienmärkte in nächster Zeit weiterhin belasten. Die Korrektur am (defensiven) Schweizer Aktienmarkt dürfte aber weniger stark ausfallen als an anderen zyklischeren Märkten.

Stimmung an den Aktienmärkten noch nicht am Tiefpunkt

Die Stimmung an den Aktienmärkten ist zwar nach wie vor schlecht und wohl auch noch nicht am Tiefpunkt angelangt. "Oft endet ein Bärenmarkt mit einem finalen Ausverkauf", so Geissbühler. Seit der Jahrtausendwende ist der als Angstbarometer bekannte Volatilitätsindex VIX am Ende eines jeweiligen Bärenmarktes immer mindestens über 40 gestiegen. Einen solchen Wert wurde in diesem Jahr noch nicht erreicht. Das verheisst eigentlich nichts Gutes.

Die Erholung im Oktober dürfte sich im Nachhinein daher wie zuletzt im Juli als Bärenmarktrally entpuppen - eine nur kurzzeitige Erholung der Aktienkurse, auch als "Bullenfalle" bekannt. Es würde nicht erstaunen, wenn ein finaler Ausverkauf noch stattfindet, bevor es wirklich nachhaltig aufwärtsgeht. 

"Fundamental würde dem Aktienmarkt ein deutlicher Rückgang der Inflation sowie klare Signale von Seiten der Notenbanken, dass die Zinserhöhungszyklen zu einem Ende kommen, helfen", argumentiert Geissbühler.  Wichtig wäre auch, dass die Gewinnschätzungen auf realistische Niveaus angepasst werden. Dieses Gesamtbild teilt auch Racheter und fügt an, dass "der Markt seinen Tiefpunkt im Durchschnitt vier Monate vor dem Tiefpunkt der Gewinnrevision erreicht".

Auch für Frangulidis müssen die Notenbanken und insbesondere die Fed als Folge der verschlechterten Konjunkturlage und des nachlassenden Preisdrucks ihre restriktive Geldpolitik revidieren. Eine daraus resultierende steilere US-Zinskurve wäre ein erstes wichtiges positives Signal für die Aktienmärkte. "Der Bärenmarkt wäre nachhaltig überwunden, wenn danach die Erwartungen bezüglich der Konjunkturentwicklung wieder positiver beurteilt werden sollten."

«Bärenmärkte gehören beim Investieren dazu»

Bärenmärkte weisen nur eine kurze Lebenserwartung auf - durchschnittlich knapp 16 Monate. 30 Prozent der Tage mit den grössten Kursgewinnen fielen wiederum in den ersten Monaten eines Bullenmarkts an. Und drei Viertel der Bärenmarkt-Verluste werden in der Regel innerhalb eines Jahres aufgeholt.

"Die deutlich tieferen Kurse erhöhen das mittel- und langfristige Potenzial der Aktienmärkte", sagt auch Frangulidis. Habe man während der Baisse die Aktienbestände deutlich reduziert oder eliminiert, werde man an der darauffolgenden Preiserholung nur unterdurchschnittlich partizipieren und somit die zuvor definierten langfristigen Ziele nicht mehr erreichen können.

Anlegerinnen und Anleger sind daher auch in der Marktkrise gut beraten, sich einen Plan für Reinvestitionen zurechtzulegen. Die Talsohle abzuwarten und dann direkt zu investieren, ist riskant, weil das richtige Timing nur mit viel Glück möglich ist und der Tiefpunkt eines Bärenmarkts historisch gesehen meist sehr kurz ist. 

Die Schweiz bleibt für die Bank Julius Bär der bevorzugte Markt im Falle einer Verlangsamung der globalen Wirtschaft, da Schweizer Aktien im Vergleich zu globalen Aktien bessere Gewinnmargen und stabile Erträge aufweisen. Aktienexperte Racheter rechnet damit, dass Frühindikatoren im ersten Quartal 2023 den Tiefpunkt erreichen werden. Dies böte dann eine Kaufgelegenheit, um in zyklischere Märkte und Aktien umzuschichten.

Angesichts der historischen Nachweise bestehen bessere Erfolgsaussichten, wenn man investiert ist, als wenn man nicht investiert wäre. Auch Geissbühler, der eine taktische Cash-Quote für das rasche Ausnutzen von Opportunitäten empfiehlt, sagt: "Grundsätzlich sollten an der langfristigen Anlagestrategie keine wesentlichen Anpassungen vorgenommen werden. Bärenmärkte gehören beim Investieren dazu und ändern am langfristigen Aufwärtstrend an den Börsen wenig."

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