cash.ch: Herr Brülhart, die Gegner des Eigenmietwerts argumentieren, es werde ein fiktives Einkommen besteuert. Andere sagen, es gehe um Gerechtigkeit, der Eigenmietwert trage zum Ausgleich zwischen Mietern und Hauseigentümern bei. Zwei Seiten der gleichen Medaille, ein Widerspruch oder eine mehr oder weniger sinnlose Diskussion?
Marius Brülhart: Es ist nachvollziehbar, dass es gewisse Leute stört, wenn sie ein Einkommen versteuern müssen, das sie nicht in Form von Geld beziehen. Doch der Eigenmietwert ist nicht fiktiv. Er ist sogar sehr real: Der Wert des Wohnens in den eigenen vier Wänden. Deshalb ist die Steuer steuersystematisch absolut gerechtfertigt.
Damit wird aber ein gedanklicher Transfer verlangt, da man sich ein Einkommen normalerweise als Frankenbetrag und nicht als Naturalwert vorstellt.
Zugegeben, das leuchtet auf Anhieb nicht unbedingt ein. Mit etwas Überlegen kommt man jedoch zur Einsicht, dass es durchaus Sinn ergibt, den Eigenmietwert zu besteuern. Dadurch entspricht man dem Verfassungsgrundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die allermeisten Fachleute sehen das so. Schauen Sie in die USA. Dort kennt man die Steuer auf den Eigenmietwert nicht. Die führenden amerikanischen Experten halten das für einen Fehler.
Wenn man konsequent sein will, müsste man eine analoge Steuer auch auf das Auto erheben, oder?
Ja, in der reinen Theorie. Es wäre kohärent, alle dauerhaften Güter - das eigene Auto, die Möbel und so weiter – ähnlich zu besteuern wie den Eigenmietwert. Aber ein Eigenheim hat halt eine ganz andere Grössenordnung als ein Auto oder eine Inneneinrichtung. In der Schweiz sind die privaten Immobilien mehr als zehnmal so viel wert wie der gesamte Fahrzeugpark. Zudem sind Immobilien viel langlebiger. Der Verwaltungsaufwand für eine vergleichbare Steuer auf andere dauerhafte Güter stünde in keinem Verhältnis zum Ertrag. Es gibt in der Praxis ja für jede Steuer irgendwo eine Bagatellgrenze.
Die Reform der Wohneigentumsbesteuerung ist mehrschichtig: Die Steuer auf den Eigenmietwert soll abgeschafft werden, aber auch Abzüge für Schuldzinsen und Unterhaltskosten sollen fallen. Im aktuellen Tiefzinsumfeld: Wer profitiert?
Die überwiegende Mehrheit der Wohneigentümer, und insbesondere jene, die eine kleine Hypothek haben - sei es, weil sie das Haus schuldenfrei geerbt haben, sei es, weil sie die Schuld schon abgetragen haben oder sei es, weil sie schon beim Kauf vermögend waren und keine grosse Hypothek benötigt hatten. Personen mit neuen Immobilien in gutem Zustand profitieren ganz besonders, da Unterhaltsabzüge für sie weniger ins Gewicht fallen.
Stimmt es, dass langjährige und in der Regel ältere Hausbesitzer einen Vorteil gegenüber jüngeren Wohneigentümern haben?
Ja. Gut situierte Haushalte im fortgeschrittenen Alter würden vor allem von der Abschaffung profitieren. Daten der Bundesverwaltung zeigen, dass 88 Prozent der Eigentümer im Rentenalter weniger Steuern zahlen müssten. Weil die Gewinner-Gruppen besonders zuverlässige Urnengänger sind, könnte die Reform in der anstehenden Volksabstimmung Chancen haben, obwohl sie gesamthaft in der Minderheit sind.
Gerade Rentner haben aber ein Risiko, dass sie das Eigenheim nicht mehr finanzieren können.
Dieses Risiko besteht, wird aber oft überzeichnet. Schätzungen gehen von maximal 2 bis 3 Prozent der Rentnerhaushalte aus, welche wegen dem Eigenmietwert in ernsthafte finanzielle Engpässe geraten könnten. Dafür kann der Staat separate Härtefallregelungen vorsehen. Solche gibt es bereits. Zudem bieten Banken sogenannte Umkehrhypotheken an. Damit kann man das Vermögen, das in den eigenen vier Wänden steckt, quasi zu Geld machen, so die eigene Rente erhöhen und das Liquiditätsproblem beseitigen.
Wer verliert, wenn die Reform durchkommt?
In erster Linie die Mieter. Sie verlieren zwar nicht direkt, an ihrer Steuerrechnung ändert sich nichts. Aber die Steuerausfälle bei Bund und Kantonen von geschätzt 2 Milliarden Franken müsste jemand auffangen. Das wären immerhin rund 500 Franken pro Haushalt und Jahr. Entweder würden staatliche Leistungen in diesem Umfang zurückgefahren oder andere Steuern erhöht. Seitens der Unternehmen würde das Hyptothekengeschäft der Finanzdienstleister zurückgehen, und auch Handwerker würden Einbussen erleiden.
Welche Rolle spielt das Zinsniveau generell für die Frage, wer gewinnt und wer verliert?
Die Eigenmietwertbesteuerung beschert dem Staat bei tieferen Zinsen grössere Einnahmen, da die Schuldzinsabzüge dann geringer sind. Für Hausbesitzer wirkt die Eigenmietwertbesteuerung interessanterweise als eine Art finanzieller Stossdämpfer, denn wenn die Zinsen steigen fällt ihre Steuerbelastung. Nach einer Abschaffung der Steuer wären Eigentümer einem höheren Zinsrisiko ausgesetzt.
Für Erstkäufer sind die Schuldzinsen weiterhin abzugsfähig, wenn auch nur zeitlich begrenzt. Inwiefern wird dies die Nachfrage und damit die Preise für Wohneigentum erhöhen?
Die Gretchenfrage lautet, ob der Zugang zu Wohneigentum per Saldo erschwert oder erleichtert würde. Einerseits: Ein Wegfall des Eigenmietwerts bei weiterhin möglichen Schuldzinsabzügen würde Erstkäufern zumindest für einige Jahre einen finanziellen Vorteil gegenüber dem aktuellen System verschaffen. Andererseits dürfte die Reform die Eigenheimpreise weiter befeuern, da Wohneigentum steuerlich attraktiver würde. Dies würde den Zugang für Ersterwerber erschweren. Welcher der beiden Effekte letztlich überwiegen würde, ist Stand heute unklar. Die Reform würde Erstkäufern somit weniger nützen als etablierten Eigentümern.
Unterhaltskosten werden nicht mehr vom steuerbaren Einkommen abgezogen werden können. Mit welchem Effekt rechnen Sie bei sanierungsbedürftigen Häusern?
Kurzfristig gäbe es eine Welle: Die Leute würden Sanierungen noch vor der Reform durchführen wollen. Wichtiger jedoch wären zwei langfristige Effekte. Zum einen würden weniger Unterhaltsarbeiten verrichtet; der Schweizer Immobilienpark würde weniger perfektionistisch gepflegt als heute. Zum anderen würde die Schwarzarbeit zunehmen.
Wie das?
Heute hat der Eigentümer ein Interesse, dass die Arbeiten von Malern, Schreinern, Sanitärfachpersonen et cetera sauber abgerechnet werden. Nur mit korrekten Belegen kann er die Beträge von den Steuern abziehen. Dieser Anreiz fällt weg, wenn solche Ausgaben nicht mehr steuerrelevant sind. Und nicht alle Handwerker können der Versuchung widerstehen, sich undokumentiert auszahlen zu lassen, um Mehrwertsteuern und Sozialabzüge zu umgehen.
Das widerspricht ein Stück weit der Sorge, dass die Abschaffung des Eigenmietwerts das Baugewerbe schwächen dürfte.
Ich erlebe bereits jetzt als Eigentümer, wie Handwerker aus dem grenznahen Ausland klingeln und fragen, ob man nicht noch etwas am Dach oder an der Mauer im Garten machen könne – zu erstaunlich tiefen Preisen und bar in die Hand. Der Anreiz für Eigentümer, auf solche Angebote einzutreten, würde zunehmen.
Abgestimmt wird nicht direkt über den Eigenmietwert, sondern über die Objektsteuer auf Zweitliegenschaften. Ist diese Verknüpfung sachgerecht - oder einfach ein mehr oder weniger gut schweizerischer Kompromiss, um Bergkantone für die Reform zu gewinnen?
Rein finanzpolitisch ist die Verknüpfung stimmig. Die Bergkantone befürchteten wegbrechende Einnahmen durch die Zweitwohnungen. Aber die praktische Umsetzung wäre für die betroffenen Kantone viel aufwändiger als eine Beibehaltung des existierenden Systems.
Marius Brülhart ist Professor für Ökonomie an der Universität Lausanne. Seine Schwerpunkte sind Finanzwissenschaft, Regionalökonomie und internationaler Handel. Zudem ist er unter anderem Editor-in-Chief des «Swiss Journal of Economics and Statistics», einer wissenschaftlichen Publikation. Brülhart hat die Reform des Eigenmietwerts eng begleitet und sprach zu diesem Thema als Experte in der Wirtschaftskommission des Parlaments. Seine Präsentation trug den Titel: «Abschaffung des Eigenmietwerts: ökonomische Betrachtung».