Die Europäische Zentralbank (EZB) senkt den Leitzins angesichts der Konjunkturflaute und nachlassender Inflationssorgen zu Beginn des Jahres weiter. Der EZB-Rat beschloss am Donnerstag, den am Finanzmarkt massgeblichen Einlagensatz von 3,00 auf 2,75 Prozent zu drücken. 

Es ist bereits die fünfte Zinssenkung, seit die Währungshüter um Notenbankchefin Christine Lagarde im Juni die Zinswende eingeleitet haben. Das sagen Ökonomen zur aktuellen Entscheidung der EZB:

Stefan Gerlach, Chefökonom EFG Bank:

«Die heutige Entscheidung der EZB, die Zinssätze um 0,25 Prozent von 3 Prozent auf 2,75 Prozent zu senken, zeigt, dass die monatlichen Gesamt- und Kerninflationsraten in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 niedrig waren. Wenn diese Situation anhält, wird die Inflation im Laufe des Jahres 2025 auf das 2 Prozent-Ziel der EZB fallen. Ein zweiter Faktor ist die Schwäche des Euroraums, der im vierten Quartal 2024 kein Wachstum des realen BIP verzeichnete. Volkswirtschaften mit einem grossen verarbeitenden Gewerbe, insbesondere Deutschland, haben sich schwach entwickelt. Dies spiegelt zwar das Wirtschaftsmodell wider, das sich auf Autoexporte nach China und die Abhängigkeit von billiger russischer Energie konzentriert, zeigt aber auch, dass die straffe Geldpolitik stärker auf die kapitalintensiven Wirtschaftssektoren gewirkt hat. Im Gegensatz dazu verzeichnen die Volkswirtschaften im Süden des Euroraums mit ihren grossen Tourismussektoren derzeit ein beträchtliches Wachstum. Da das Lohnwachstum voraussichtlich nachlassen und die wirtschaftliche Schwäche auch 2025 anhalten wird, wird erwartet, dass die EZB die Zinssätze bis zum Jahresende noch zwei- oder dreimal senken wird.»

Carsten Brzeski, globaler Leiter Macro ING Bank:

«Auch wenn dies in den letzten Wochen nicht deutlich angekündigt wurde, ist die heutige Entscheidung der EZB, den Leitzins um 25 Basispunkte zu senken, keine Überraschung. Trotz der etwas zäheren Gesamtinflation waren die Schwäche der Wirtschaft in der Eurozone sowie die feste Überzeugung der EZB, dass die Inflation wieder auf das Zielniveau zurückkehren wird, starke Argumente für die heutige Zinssenkung. Die Presseerklärung der EZB war in den wichtigsten Absätzen fast eine wortwörtliche Kopie der Erklärung vom Dezember. Der politischen Erklärung zufolge gibt es also keine Änderungen an der künftigen Leitlinie. Die EZB bleibt bei ihrem Ansatz, von Sitzung zu Sitzung zu handeln. Der Einlagenzinssatz von 2,75 Prozent ist jedoch immer noch restriktiv – zu restriktiv für den derzeit schwachen Zustand der Wirtschaft in der Eurozone. Der jüngste Anstieg der Anleiherenditen hat die Finanzbedingungen in der Eurozone ebenfalls verschlechtert. Auch wenn einige argumentieren, dass die Geldpolitik nur wenig zur Lösung struktureller Probleme beitragen kann, werden die politische Instabilität und Unsicherheit in vielen Ländern die EZB dazu zwingen, weiterhin die schwere Arbeit zu leisten. Solange der derzeitige Inflationsdruck im Laufe des Jahres voraussichtlich nachlassen wird, wird die Bank den derzeitigen Inflationsanstieg wahrscheinlich übersehen. Die Erfahrung, die die EZB mit der langsamen Reaktion auf die steigende Inflation gemacht hat, wird die EZB zwar davon abhalten, ultraniedrige Zinsen einzuführen, doch der Wunsch, der Entwicklung immer einen Schritt voraus zu sein, bleibt ein zwingender Grund, die Zinsen so schnell wie möglich wieder auf neutral zu bringen.» 

Ulrich Kater, Chefökonom Dekabank:

«Trump und seine bisherigen erratischen Ankündigungen haben für die europäische Geldpolitik keine Auswirkungen. Die europäische Wirtschaft und die Währung Euro sind zu gross, um von den bisherigen Initiativen der neuen US-Regierung beeinträchtigt zu werden. Für die EZB zählt allein die innereuropäische Entwicklung von Konjunktur und Inflation. Dabei lautet im Euroraum derzeit die Frage nicht, ob die EZB die Zinsen in diesem Jahr noch weiter senkt, sondern um wieviel. Langsam muss sich die Notenbank darüber Gedanken machen, wo der Endpunkt der Zinstreppe nach unten ist. Zwei oder drei Schritte sind noch drin, dann werden sich Zinsen und Inflation wieder vollständig beruhigt haben. Damit sind dann auch die Spätfolgen von Corona und Energiekrise zumindest für die Geldpolitik ausgestanden.»

Cyrus de la Rubia, Chefökonom Hamburg Commercial Bank:

«Der Schritt war keine Überraschung. Das Wachstum ist zu schwach, um von einer Zinssenkung abzusehen. Gleichzeitig ist die Inflation und vor allem die Dienstleistungsinflation zu hoch, um eine aggressivere Gangart einzulegen. Die Finanzmarktteilnehmer gehen von mindestens zwei weiteren Zinssenkungen aus, aber die EZB dürfte sich hier kaum festlegen wollen, da der Inflationsausblick im Vorfeld der Wahlen in Deutschland und möglicherweise Frankreich sowie möglicher Zölle durch die Trump-Administration extrem unsicher ist.»

Alexander Krüger, Chefökonom Hauck Aufhäuser Lampe:

«Nennenswerte Änderungen beim Wording gibt es nicht. Wie es bei den Leitzinsen weitergeht, hängt unverändert von der Datenlage ab. In einem Umfeld mit Quasi-Preisstabilität dürfte die Neigung zu weiteren Zinssenkungen gross sein. Eine neutrale Ausrichtung ihrer Zinspolitik wird die EZB auch wegen der schwächelnden Konjunktur weiter aufbauen. Drei Zinssenkungen auf den Ratssitzungen bis Juni scheinen weiterhin machbar. Das hohe Lohnwachstum spricht derzeit gegen ein weiteres Absinken, zumal Zölle das Inflationsrisiko perspektivisch steigern.»

Thomas Gitzel, Chefökonom VP Bank:

«Die EZB setzt ihren Zinssenkungskurs auch im Jahr 2025 fort. Einerseits ist die EZB zuversichtlich, dass die Inflationsrate weiter sinken wird, andererseits steckt der gemeinsame Währungsraum in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Der Disinflationsprozess schreite gut voran, heisst es von Seiten der EZB. Die Inflation würde sich weiterhin im Einklang mit den Projektionen entwickeln und dürfe im laufenden Jahr zum mittelfristigen Zielwert des EZB-Rats von 2 Prozent zurückkehren. Die meisten Messgrössen der zugrunde liegenden Inflation würden darauf hindeuten, dass sich die Inflation nachhaltig im Bereich des Zielwerts einpendeln würde. Tatsächlich nahmen einige EZB-Offiziellen bereits in den vergangenen Wochen kein Blatt vor den Mund: Die Zinsen werden weiter sinken. Der Einlagensatz soll auf 2Prozent geführt werden. Demnach liegen relativ gesichert drei weitere Zinssenkungen vor uns. Der EZB bereitet vor allem die angeschlagene Konjunktur des Währungsraumes Sorgen. Würde nämlich das Wachstum über einen längeren Zeitraum seinen Stagnationskurs fortsetzen, hätte dies auch Auswirkungen auf die Inflationsentwicklung. Die EZB fürchtet sich dabei auf einem Deflationsszenario. Eine weitere Zinssenkung im März ist deshalb eine relativ sichere Sache. Risiko bleibt derweil ein hohes Lohnwachstum. Zwar dürften die Arbeitnehmerentgelte im laufenden Jahr nicht mehr so stark zulegen wie im Durchschnitt der vergangenen zwei Jahre, doch dies heisst auf der anderen Seite eben nicht, dass das Lohnwachstum gar kein Problem mehr darstellt. Gerade in den Ländern des Währungsraumes mit hohen Wachstumsraten bleibt die Verhandlungsposition der Gewerkschaften günstig. Die EZB ist sich der Gefahr bewusst. Dass der Einlagensatz in diesem Jahr unter die Marke von 2Prozent fällt, ist deshalb eher unwahrscheinlich.»

Jörg Krämer, Chefökonom Commerzbank:

«Die EZB hat ihre Zinsen anders als gestern die US-Notenbank erneut gesenkt. Aber auch im Euroraum gibt es Argumente für eine abwartende Haltung. So hat sich die Inflation ohne die schwankungsanfälligen Preise für Energie und Nahrungsmittel deutlich oberhalb des EZB-Ziels von zwei Prozent festgesetzt. Ausserdem legen die Löhne nach wie vor kräftig zu, wobei unklar ist, ob der Lohndruck wie von der EZB erhofft bereits im zweiten Halbjahr deutlich nachlässt. Darüber hinaus macht die jüngste Erholung des Einkaufsmanagerindex Hoffnung auf eine etwas bessere Konjunktur.»

(cash/Reuters)