Von aussen betrachtet sind die Aussichten für Deutschland durchaus positiv — der Aktienmarkt boomt, internationale Investoren zeigen wieder Interesse, und die neue Regierung ist trotz aller geopolitischen Widrigkeiten weitgehend robust in ihre Legislaturperiode gestartet.
Doch jenseits steigender Börsenkurse lässt der wirtschaftliche Aufschwung bisher noch auf sich warten. Und viele Menschen hegen Zweifel, ob das Land für die notwendige Transformation tatsächlich gerüstet ist und diese auch wirklich umsetzen kann. Viele wirtschaftliche Reformvorhaben der Vergangenheit sind in der politischen Realität am Ende versandet.
Doch seit Trumps Rückkehr ins Weisse Haus sind die Märkte weltweit in Aufruhr, und dabei hat sich der deutsche Aktienmarkt als ein gesuchter Stabilitätsanker erwiesen. Der Dax notiert nahe einem Rekordhoch und ist mit einem Jahresplus von rund 17% derzeit der Index mit der besten Performance weltweit. Für internationale Fondsmanager ist Deutschland zu einer der ersten Adresse geworden, wenn es um eine Diversifizierung abseits des US-Marktes geht.
«Deutschland ist aufgrund seiner Grösse und Bedeutung auf dem europäischen Markt führend», sagte Jim Zelter, Präsident von Apollo Global Management LLC, diesen Monat in einem Interview mit Bloomberg TV. «Es ist ein spürbarer Wandel, an dem wir teilhaben wollen.»
Die neue Bundesregierung hatte daran einen massgeblichen Anteil mit einem Infrastrukturfond von €500 Milliarden und weiteren gewaltigen Ausgaben für Verteidigung — insgesamt ein historisches Konjunkturpaket.
Doch die Euphorie an den Börsen steht im Kontrast zur aktuellen Stimmung in einigen Teilen des Landes — vor allem in Regionen, die vom Strukturwandel traditioneller Industriesektoren in den vergangenen Jahren schon hart getroffen wurden. Dort überwiegt die Skepsis. Investitionen bleiben aus, und ein klarer Plan für eine wirtschaftliche Wiederbelebung fehlt.
Während in Ländern wie Frankreich oder Niederlande das verarbeitende Gewerbe weniger als zehn Prozent zur Wirtschaftsleistung beiträgt, ist der Anteil in Deutschland rund doppelt so hoch. Entsprechend hart haben die gestiegenen Energiepreise infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine die deutsche Wirtschaft getroffen. Auch der zunehmende internationale Wettbewerbsdruck, vor allem von Anbietern aus China, setzt das jahrzehntelange Erfolgsmodell der deutschen Wirtschaft unter Druck.
Donald Trumps Zoll-Ankündigungen kamen daher denkbar ungelegen für Deutschlands exportorientiertes Geschäftsmodell. Schon in seiner ersten Amtszeit hatte der US Präsident Europas grösste Volkswirtschaft mehrfach ins Visier genommen. Auch wenn das erste Treffen zwischen Friedrich Merz und Trump im Weissen Haus relativ harmonisch verlief ist die potenzielle Bedrohung durch einen Handelskrieg zwischen den USA und der EU nicht gebannt.
«Wir sind mit einem Überhang zerstörerischer Kräfte konfrontiert», sagt Melanie Arntz, Vizedirektorin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. «Nicht viel Neues entsteht, und das macht die Wahrnehmung pessimistisch.»
Tatsächlich erzielen deutsche Grossunternehmen weniger als ein Fünftel ihrer Umsätze im Inland, weswegen ein Aufschwung an der Börse nicht zwangsweise die Stimmung im eigenen Land widerspiegelt. Gerade der Mittelstand, Rückgrat der deutschen Wirtschaft, zweifelt zum Teil noch an der Umsetzung einer umfassenden Wirtschaftsreform.
Zum Beispiel Karsten Vogt.
Der Mittfünfziger überlegt, Langen Feuerungsbau zu schliessen, statt es für die zunehmend schwierigen globalen Wirtschaftsbedingungen noch einmal neu und besser aufzustellen. Vogts Urgrossvater hat das Familienunternehmen in den dreissiger Jahren in Duisburg gegründet, der Wiege der deutschen Stahlindustrie. Doch die Nachfrage nach den feuerfesten Türen für Kraftwerke in Deutschland sinkt.
«Ich habe nicht vor, mich im letzten Jahrzehnt meines Arbeitslebens noch mal neu zu erfinden», sagt Vogt. «Ich habe zweimal einen Wandel mitgemacht und ich glaube, das reicht, weil es schlaucht.»
Gefühle, wie Vogt sie beschreibt, sind vielen Menschen in und um Duisburg nicht fremd. Der Strukturwandel schreitet dort mit aller Kraft voran. Grosse Stahlproduzenten wie ThyssenKrupp, ArcelorMittal und HKM stehen vor massiven Stellenstreichungen und möglicherweise sogar vor Werksschliessungen — eine Aussicht, die vielen Menschen Sorgen bereitet.
Laut Arntz hat sich der Stellenabbau in der deutschen Industrie beschleunigt: etwa 10.000 Arbeitsplätze verschwinden derzeit monatlich. Das Konsumklima hat sich von der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine nach wie vor nicht erholt. Die Arbeitslosigkeit ist im Mai so stark gestiegen wie seit fast drei Jahren nicht mehr. Und Merz’ CDU hat zwar den Vorsprung vor der AfD wieder etwas ausgebaut, doch die AfD bleibt weiter die zweitstärkste Partei des Landes.
Trumps «America First»-Agenda könnte die Situation für die neue Regierung weiter verkomplizieren. Sein Ziel ist es, Länder wie Deutschland für ‘unfaire’ Praktiken, die angeblich US-Unternehmen und Arbeitnehmer ausnutzen, zu bestrafen. Die historische Exportstärke des Landes, die nicht zuletzt auch der europäischen Wirtschaft als Wachstumsmotor gedient hat, stellt Deutschland ins Fadenkreuz.
«Ich möchte, dass deutsche Autohersteller zu amerikanischen Autoherstellern werden, ich möchte, dass sie ihre Werke hier bauen», sagte Trump im Wahlkampf.
Seither hat er die deutsche Regierung weiter provoziert: Vizepräsident JD Vance traf sich nur wenige Tage vor der Bundestagswahl mit der AfD-Kandidatin Alice Weidel. Im Mai bezeichnete Aussenminister Marco Rubio die Klassifizierung der Partei als «gesichert rechtsextrem» durch den deutschen Verfassungsschutz als «versteckte Tyrannei».
Schlimmer als hitzige Rhetorik trifft Deutschland und die Europäische Union die Androhung von Strafzöllen seitens der USA. Das besorgt vor allem die Autohersteller, die im vergangenen Jahr Fahrzeuge im Wert von 25 Milliarden Dollar in den USA verkauft haben. Aber auch andere Industriesektoren sind in Aufruhr.
«Wir sehen, was Donald Trump ausgelöst hat», sagt Werner Schaurte-Küppers, Präsident der Industrie- und Handelskammer in Duisburg. «Unsere Hoffnung ruht jetzt erstmal auf der Bundesregierung, und dass sie schnell Handlungswillen zeigt.» Die deutsche Industrieproduktion ist seit Ende 2017 stetig zurückgegangen, und die Wirtschaft ist in den letzten zwei Jahren durch den Energiepreisschock in Folge des Ukrainekriegs geschrumpft.
Und so gingen die Wähler im Februar, kurz nach Trumps Amtsantritt, mit einem Gefühl an die Urnen, dass sich die chronischen Probleme des Landes zu einer Notlage zuspitzen.
Die neue Legislaturperiode biete möglicherweise «die letzte Chance», das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger «in die politischen Parteien unserer Demokratie» zurückzugewinnen, so Merz nach der Bundestagswahl, bei der die AfD stärkste Oppositionspartei wurde.
Merz hat bereits einen 500 Milliarden Euro schweren Fonds zur Modernisierung der maroden Infrastruktur Deutschlands auf den Weg gebracht und die Schuldenbremse ausgehebelt, um Hunderte weitere Milliarden für Verteidigungsausgaben zur Verfügung zu stellen. Er hat aber auch angekündigt, Sozialausgaben zu kürzen und die Bürger gewarnt, dass der Wohlstand Deutschlands mit mehr Arbeit erwirtschaftet werden muss.
«Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand unseres Landes nicht erhalten können», sagte er auf einer Parteiversammlung im Mai.
Die AfD hingegen verspricht, deutsche Traditionen zu bewahren. Dazu gehöre laut der Partei, Hunderttausende von Migranten ohne Papiere auszuweisen und der Europäischen Union den Rücken zu kehren. Und sie plädiert fuer eine radikale Wirtschaftswende, um lokale Wertschöpfung zu stärken. Duisburg, wo Vogts Firma beheimatet ist, ist einer der Orte, die verdeutlichen, wie schnell Merz das Ruder herumreissen muss, um den weiteren Zulauf zur AfD zu verhindern.
Die Stadt am westlichen Rand des Ruhrgebiets mit seiner Kohle- und Stahlindustrie hat nach dem Zweiten Weltkrieg massgeblich zum Wiederaufbau Deutschlands beigetragen. Doch heute sind mehr als 13% der Bevölkerung arbeitslos, mehr als doppelt so viel wie im bundesweiten Durchschnitt. Diejenigen, die einen Job haben, arbeiten oftmals in Branchen mit düsteren Zukunftsaussichten.
Im Norden der Stadt sind die «Weissen Riesen» — Wohnungsblocks, die in den siebziger Jahren für Stahlarbeiter gebaut wurden — zu einem sozialen Brennpunkt und einem Symbol für den Niedergang der Stadt geworden. Fast ein Viertel der Wähler im nördlichen Teil Duisburgs hat bei der Wahl im Februar die AfD unterstützt — und damit mehr als der bundesweite Anteil von 21%.
«Es hat einen Grund, warum ich zwar mein Unternehmen in Duisburg habe, aber in Duisburg selber nicht lebe», sagt Hendrik Häuser, Inhaber eines weiteren Familienunternehmens.
Häuser & Co ist auf Spritzverfahren von Werkstoffen in Industrieanlagen spezialisiert. Sein Vater spaltete das Unternehmen 1995 von ThyssenKrupp ab und suchte sich neue Kunden. Häuser ist davon überzeugt, dass die Stahlproduktion in Deutschland keine Zukunft hat. «Viele Arbeitsplätze werden in den nächsten drei bis fünf Jahren verloren gehen», sagt Häuser Junior, der vom Niederrhein nach Duisburg pendelt. «Wenn die Stahlindustrie in Duisburg wegbricht, wo sollen die Leute denn dann hin? Es gibt kein anderes Unternehmen, keine andere Branche wo die Leute hingehen können.»
Chancen für eine mögliche Wiederbelebung der Stadt liegen vielleicht in der wachsenden Logistikbranche. Duisburgs Lage am Zusammenfluss von Rhein und Ruhr und am Ende eines transkontinentalen Eisenbahnkorridors, der bis nach China reicht, hat der Stadt geholfen, den grössten Binnenhafen der Welt zu entwickeln.
Mit zehn verschiedenen Containerterminals und 52.000 Mitarbeitern wurden im vergangenen Jahr umgerechnet 3,9 Millionen 20-Fuss-Container umgeschlagen. Das sind etwa 40% dessen, was über Los Angeles, den grössten Containerhafen der USA, abgewickelt wird.
Dennoch berichtet Markus Bangen, Geschäftsführer des Hafenbetreibers Duisport, dass die Stimmung unter vielen deutschen Unternehmen, mit denen er zu tun hat, schlecht ist. Nach einem zweiten Jahr der wirtschaftlichen Schrumpfung hatte sich die Lage in den ersten Monaten von 2025 stabilisiert – bis im April Trumps Zoll-Ankündigungen kamen. «Innerhalb von wenigen Tagen wurde das Grundvertrauen zerstört», sagt Bangen.
Bei Langen Feuerungsbau denkt Vogt nun darüber nach, wie seine Familie in den letzten Jahrzehnten Umbrüche gemeistert hat, und beklagt die Vorsicht, die er und seine Vorfahren stets haben walten lassen.
«Wir haben immer eine Nische gefunden, haben aber auch immer zu lange gewartet, um den Absprung zu schaffen und etwas Neues zu machen, weil man immer am Alten festhält», sagt er. «Wir werden in dieser Form so lange produzieren wie es geht, um dann wahrscheinlich irgendwann den ganzen Laden dichtzumachen.»
(Bloomberg)