Vor dem Fenster von Uğur Şahin türmen sich vier Stockwerke hoch die Labor- und Büro-Container, in denen Biontech seine in der Pandemie rasant wachsende Belegschaft unterbringen musste.

Wie seine einen Steinwurf vom Rhein in Mainz entfernte, teilweise improvisierte Zentrale, ist auch Biontech selbst ein Unternehmen im Entstehen. Am Dienstag gelang der neueste Anbau mit der Übernahme von InstaDeep, einem britischen Spezialisten für Maschinenlernen und Künstliche Intelligenz. Nach dem Welterfolg von Biontechs mit Pfizer entwickeltem Covid-19-Impfstoff können sich die Mainzer den 636-Millionen-Euro-Einkauf leisten.

Jetzt müssen Şahin und sein Team beweisen, dass Biontech mehr ist als ein Pandemie-Wunderkind, und Medikamente für einen der am stärksten umkämpften Bereiche der Pharmaindustrie entwickeln: Krebs. Bei zwei entscheidenden Studien soll es Ergebnisse geben.

In diesem Jahr geht es “um die Fähigkeit zur Umsetzung”, sagte Şahin Ende Dezember in einem Interview. “Das ist die Hauptsache.”

Biontech wetteifert mit Moderna um die Vorherrschaft auf dem Gebiet der mRNA und will die Technologie zur Behandlung von Krebs und gegen Infektionskrankheiten von HIV bis Grippe einsetzen. Im Gegensatz zu Moderna arbeitet Biontech auch mit einer Vielzahl anderer Technologien, von Zelltherapien bis hin zu Antikörpern.

Krebstest

“Das ist eigentlich Teil unserer DNA”, sagte Özlem Türeci, Chief Medical Officer von Biontech und Şahins Ehefrau. “Wir sind kein Unternehmen, das eine monolithische Plattform hat und daran festhält.”

Ein Erfolg im Bereich Krebs wäre von größter Bedeutung für Biontech — insbesondere für den experimentellen Melanom-mRNA-Impfstoff, den die Firma zusammen mit dem Schweizer Arzneimittelriesen Roche testet, so Sam Fazeli, ein Analyst bei Bloomberg Intelligence.

Anders als das US-Unternehmen, das das Medikament an Patienten testet, die bereits operiert wurden, zielt Biontechs Test auf Erstbehandlung und auf Patienten, deren Tumore bereits gestreut haben. Daher könnte es sich schwerer damit tun, ebenso glänzende Ergebnisse vorzulegen.

“Wenn die Erstlinientherapie beim Melanom nicht funktioniert, könnte die Aktie schwer gebeutelt werden”, sagt Fazeli. “Dann werden die Leute denken, dass Moderna etwas hat, was diese Jungs nicht haben, obwohl das nicht zu 100% stimmt, weil die Studien unterschiedlich sind.”

Sollte der Versuch jedoch erfolgreich sein, so Şahin und Türeci, dann könnte das Projekt ein Sprungbrett für viele weitere Versuche sein.

Ein Melanom zu behandeln, nachdem es sich ausgebreitet hat, “ist eine viel höhere Hürde”, so Şahin. Aber wenn es funktioniert, könnte es eine Grundlage für den Einsatz der mRNA-Krebstherapie als ersten Schritt für andere Tumorarten sein. “Es ist eine Art Machbarkeitsnachweis.”

Biontechs am weitesten fortgeschrittener Produktkandidat ist ein mRNA-Impfstoff gegen die saisonale Grippe, an dem die Mainzer mit Pfizer arbeiten. Auch hier werden die Studienergebnisse dieses Jahr erwartet. Der Markt könnte bis 2030 ein Volumen von 10 Milliarden Dollar haben, so Pfizer kürzlich in einer Investorenpräsentation. Die Partner arbeiten auch an einer Grippe-Covid-Kombinationsimpfung, die noch nicht so weit fortgeschritten ist.

Ausgetrocknet

Indessen versiegt die Einnahmequelle, die das Wachstum von Biontech explosionsartig beflügelt hat: Der Umsatz mit dem Covid-Impfstoff wird in diesem Jahr wohl um rund 45% auf 9,2 Milliarden Euro sinken, schätzen von Bloomberg befragte Analysten. Biontech teilt sich die Erlöse mit Pfizer.

Die Biontech-Aktie hat in den letzten 12 Monaten rund ein Drittel ihres Wertes verloren, da sich mit der Omikron-Variante die Einstellung breit machte, mit dem Virus zu leben, und die Impfbereitschaft nachließ. Der für die Variante adaptierte Impfstoff fand längst nicht mehr denselben Absatz. China als letzter nicht erschlossener Markt setzt weiter auf heimische Vakzine. Fazeli hält es sogar für schwierig, die reduzierten Umsatzerwartungen zu erfüllen.

Şahin hält sich bei dem Thema bedeckt. Da der Verkauf von Impfstoffen davon abhänge, ob eine andere Variante auftaucht und die Dynamik der Pandemie ändert, “können wir nicht einfach vorhersagen, was passieren wird”, meint der CEO.

(Bloomberg)