Die Staatsanwaltschaft Braunschweig klagt die Unternehmensspitze von Volkswagen wegen Marktmanipulation an. Sowohl der heutige Konzernchef Herbert Diess als auch der frühere Finanzvorstand und jetzige Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch und der damalige Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn hätten die Pflicht zur Information des Kapitalmarktes verletzt, teilte die Behörde am Dienstag mit - fast auf den Tag genau vier Jahre, nachdem die Abgasmanipulation in den USA ans Licht gekommen ist.

Dennoch sollen Diess und Pötsch im Amt bleiben. Das entschied das Präsidium des Aufsichtsrats wenige Stunden nach der Anklageerhebung. Am Mittwoch soll das komplette Kontrollgremium zu einer Sondersitzung zusammenkommen.

Der innere Machtzirkel, als der das Präsidium bei VW gilt, erklärte nach einer kurzfristig einberufenen Telefonkonferenz, es sei aufgrund der umfangreichen eigenen Untersuchungen aus heutiger Sicht weiterhin keine vorsätzlich unterlassene Information des Kapitalmarktes zu erkennen. Aus diesem Grund solle die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden und dem Vorstandsvorsitzenden fortgesetzt werden. Zuvor hatten Diess, Pötsch und auch Winterkorn bereits die Vorwürfe zurückgewiesen.

Die Entscheidung der Braunschweiger Staatsanwaltschaft in Sachen Marktmanipulation war seit Wochen mit Spannung erwartet worden: Nach Überzeugung der Strafermittler haben Diess, Pötsch und Winterkorn die Börse vorsätzlich zu spät über die aus der Aufdeckung der Diesel-Manipulationen resultierenden Zahlungsverpflichtungen des Konzerns in Milliardenhöhe informiert. Sie hätten damit rechtswidrig Einfluss auf den Börsenkurs des Unternehmens genommen. Diess war 2015 bereits VW-Markenchef, zum Konzernlenker stieg er vor eineinhalb Jahren auf.

Die bei Volkswagen für Integrität und Recht zuständige Vorständin Hiltrud Werner erklärte, der Konzern sei weiterhin davon überzeugt, alle kapitalmarktrechtlichen Informationspfichten erfüllt zu haben. "Sollte es zu einem Prozess kommen, sind wir überzeugt davon, dass sämtliche Vorwürfe sich als haltlos erweisen werden."

Kann sich Diess halten?

Aus dem Konzernumfeld hatte es zuvor bereits geheißen, sowohl Pötsch als auch Diess sollten im Amt bleiben. Pötsch gilt als wichtige Klammer im Aufsichtsrat, der den Kontakt zu den Eignerfamilien Porsche und Piech hält. Diess hat den Konzern nach dem Dieseldesaster umgebaut und will Volkswagen zu einem führenden Anbieter von Elektroautos machen. Seine Anwälte teilten mit, der Vorstandschef werde sich mit allen rechtlichen Mitteln verteidigen. Weder Fakten noch die Rechtslage rechtfertigten die Anklage. "Die Anklage wird Herrn Dr. Diess in Bezug auf seine Verantwortung als Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG nicht einschränken." Er werde weiterhin mit vollem Engagement seine Aufgaben im Konzern wahrnehmen. Sollte es allerdings tatsächlich zu einem Prozess kommen, stellt sich Experten jedoch die Frage, wie stark Diess dadurch in seiner Tätigkeit als Konzernchef eingeschränkt wäre.

Winterkorns Anwalt teilte mit, er sei überrascht über die Entscheidung der Staatsanwaltschaft. Die Anklage sei nicht nachvollziehbar. Winterkorn habe "keine frühzeitige Kenntnis von dem gezielten Einsatz einer verbotenen Motorsteuerungssoftware in US-Diesel-Pkw" gehabt. Wesentliche Informationen, die ihn in die Lage versetzt hätten, bereits bekannte Probleme mit den US-Dieselmotoren zutreffend einzuordnen, hätten ihn damals nicht erreicht. Winterkorn war am 23. September 2015 zurückgetreten, nachdem der Dieselskandal bekanntgeworden war.

Für Volkswagen ist "Dieselgate" ein finanzielles Desaster: Die Wiedergutmachung des Skandals hat den Konzern bislang 30 Milliarden Euro gekostet - vor allem Strafen und Schadenersatzzahlungen in Nordamerika. In Deutschland hoffen hunderttausende Kunden ebenfalls auf eine Entschädigung, in der kommenden Woche soll der Mammutprozess um die sogenannte Musterfeststellungsklage beginnen.

"Jeder für sich hat es gewusst"

Die Ermittler fahren in ihrer 636 Seiten umfassenden Anklage schweres Geschütz auf: Den Angeschuldigten sei aufgrund der sich aus der Brisanz der Thematik ergebenden erheblichen finanziellen Folgen bewusst gewesen, dass diese dem Kapitalmarkt mitzuteilen gewesen wäre, heißt es in der Mitteilung der Staatsanwaltschaft. Und weiter: "Sie hätten jedoch jeder für sich bewusst und gewollt von der erforderlichen ad-hoc-Meldung abgesehen, um den Börsenkurs der VW-Aktien auf dem bisherigen Stand zu halten und Verluste der VW-AG zu vermeiden."

Stattdessen habe man die Strategie verfolgt, ohne Offenlegung aller relevanten Umstände mit den US-Behörden einen Vergleich zu erzielen. Dabei sollte in der Wortwahl zwar von technischen Problemen, nicht aber von einem Betrug die Rede sein. Zu einem solchen Vergleich kam es jedoch nicht. Vielmehr machte die US-Umweltbehörde die Manipulationen am 18. September 2015 publik und drohte Volkswagen eine Strafe von 18 Milliarden Dollar an. Zwei Tage später, an einem Sonntag, räumte der Vorstand die Abgasmanipulationen ein und kündigte eine externe Untersuchung an. Am ersten Börsentag danach brach die VW-Aktie um 20 Prozent ein. Am 22. September legte der Konzern schließlich 6,7 Milliarden Euro zurück und kassierte seine Gewinnziele.

Nach Überzeugung der Ermittler erfuhren alle drei Angeklagten schon früh von den Abgasmanipulationen. Winterkorn habe spätestens im Mai 2015 davon Kenntnis gehabt. Pötsch sei seit dem 29. Juni 2015 und Diess seit dem 27. Juli des gleichen Jahres informiert gewesen. Jeder für sich hätte ab dem jeweiligen Zeitpunkt die erforderliche Ad-hoc-Mitteilung veranlassen müssen, was nicht geschehen sei.