Denn Volkswirten zufolge gibt es sowohl gute Argumente für eine Zinspause als auch ebenso treffende für einen weiteren Zinsschritt nach oben um 0,25 Prozentpunkte. Es wäre dann die zehnte Zinsanhebung in Folge, seit die Europäische Zentralbank (EZB) im Sommer 2022 die Zinswende einleitete.

Aktuell liegt der am Finanzmarkt massgebliche Einlagensatz, den Geldhäuser für das Parken überschüssiger Gelder von der Notenbank erhalten, bei 3,75 Prozent. Der Leitzins steht bei 4,25 Prozent.

«Eine sehr komplizierte Gemengelage, die die EZB-Entscheidung nächste Woche alles andere als einfach macht», meint Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der Bank ING. «Wir erwarten eine sehr hitzige Debatte mit einem knappen Ausgang.»

Commerzbank-Volkswirt Marco Wagner rechnet damit, dass die Währungshüter eine Zinspause beschliessen werden. «Angesichts der schwachen Konjunktur und des Abwärtstrends bei der Inflationsrate dürfte die EZB kommende Woche ihre Leitzinsen nicht weiter erhöhen, und auch auf den folgenden Sitzungen dürften die Zinsen unverändert bleiben.»

Auch Deutsche-Bank-Volkswirt Mark Wall geht von einer Pause aus: «Wir erwarten, dass die EZB den Zinserhöhungszyklus im September unterbricht und die Unsicherheit nutzt, um sich eine Option für eine weitere Zinserhöhung zu kaufen», schrieb er in seiner Vorschau.

KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib zufolge müssen die Euro-Wächter die rapide Eintrübung der wirtschaftlichen Stimmung sowie eine deutliche Abkühlung der Kreditmärkte gegen eine enttäuschende Inflationsentwicklung und Aufwärtstendenzen bei den langfristigen Inflationserwartungen in die Waagschale werfen.

«Ich tippe darauf, dass es zu einer zehnten Zinsanhebung kommt, aber es wird ein enges Rennen.» ING-Chefvolkswirt Brzeski sieht das ähnlich: «Es ist eine sehr knappe Entscheidung, aber wir erwarten weiterhin eine finale Zinserhöhung auf der EZB-Sitzung nächste Woche.»

Das letzte Jahr habe gezeigt, dass die EZB aktuellen Wirtschaftsdaten mehr Bedeutung beimesse als zu erwartenden Daten. Sie sehe zudem nach wie vor ein höheres Risiko darin, die Straffung zu früh zu beenden, als zu weit zu gehen.

Höchstes Zins-Niveau seit dem Start der Währungsunion 1999

Sollte der Einlagensatz erneut um einen viertel Prozentpunkt angehoben werden, würde er auf 4,00 Prozent steigen. Das wäre das höchste Niveau seit dem Start der Währungsunion 1999. Der jüngsten Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters zufolge erwarten 39 von 69 befragten Experten, das sind rund 57 Prozent, dass die EZB am Donnerstag eine Zinspause beschliessen wird. Investoren an der Börse taxieren gemessen an den Zinsfutures die Wahrscheinlichkeit einer Pause derzeit auf 64 Prozent.

Das Zinserhöhungsstakkato der EZB bremst die Konjunktur inzwischen deutlich. Im Frühjahr war die Wirtschaft in der 20-Ländergemeinschaft nur minimal um 0,1 Prozent gewachsen. Und die dunklen Wolken am Konjunkturhimmel nehmen zu: Der Einkaufsmanagerindex für die Privatwirtschaft im Euroraum - Industrie und Service-Sektor zusammen - sank im August überraschend deutlich um 1,6 Zähler auf 47,0 Punkte.

Die EZB muss aufpassen, dass sie mit ihrer Straffungspolitik die Wirtschaftsaktivitäten nicht komplett abwürgt. Allerdings liegt die Inflation mit zuletzt 5,3 Prozent im August immer noch mehr als doppelt so hoch wie das Stabilitätsziel der EZB von zwei Prozent Teuerung.

Eine wichtige Entscheidungshilfe für Lagarde & Co dürften die neuen Konjunktur-Prognosen der EZB-Volkswirte liefern, die zur Sitzung vorliegen werden. Volkswirt Ruben Segura-Cayuela von der Bank of America geht davon aus, dass die Inflationsprognosen nun näher an das Zwei-Prozent-Ziel heranrücken.

«Eine schwächere Auslandsnachfrage, schlechtere Wachstumsaussichten und ein stärkerer nominaler effektiver Wechselkurs reichen wahrscheinlich aus, um die Inflationsprognose bis 2025 auf 2,1 Prozent (oder sogar zwei Prozent) zu bewegen.» Damit würde die EZB 2025 ihr Inflationsziel erreichen. Die Juni-Projektionen hatten für 2025 noch eine Rate von 2,2 Prozent vorhergesagt.

Mit ersten Zinssenkungen der EZB rechnet Segura-Cayuela aber nicht vor Juni 2024. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) unterstellt in seiner Prognose einen weiteren Zinsschritt von einem viertel Prozentpunkt und geht davon aus, dass das Zinsniveau dann bis Mitte 2024 stabil bleibt.

Deutsche-Bank-Volkswirt Wall erwartet eine erste Zinssenkung nicht vor September 2024. Der Konjunkturchef des Ifo-Instituts, Timo Wollmershäuser, ist noch vorsichtiger. Er rechnet mit ersten EZB-Zinssenkungen erst gegen Ende 2024.

(Reuters)