Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass die Zinserhöhungen der Währungshüter in den USA und Europa den Anstieg der Verbraucherpreise von dem höchsten Tempo seit Jahrzehnten abbremsen werden, indem sie das Wirtschaftswachstum drosseln oder Rezessionen auslösen.

Allerdings dürfte der Rückgang der Inflation gegenüber ihrem Höchststand nicht die Wiederherstellung der Preisstabilität der jüngsten Vergangenheit bedeuten. Dafür habe sich die Weltwirtschaft zu stark verändert, so die Meinung einer grossen Gruppe von Anlegern und Strategen von Unternehmen wie Pacific Investment Management, Capital Group und Union Investment.

Jahre der grossen Mässigung vorbei

Während der Zeit der zunehmenden Globalisierung trugen billige Rohstoffe und niedrige Arbeitskosten dazu bei, die Inflation in Schach zu halten. Jetzt beginnt sich das zu ändern. Während die Länder wegen des Ukraine-Kriegs ihre Wirtschaftsbeziehungen zu Russland herunterfahren, steigen die Öl- und Gaspreise. Die Unternehmen wägen politische Spannungen ab, während sie die gestörten Lieferketten wieder aufbauen. Und die angespannten Arbeitsmärkte geben den Arbeitnehmern die Möglichkeit, höhere Löhne zu fordern.

Die Verwalter von Billionen von Dollar sind daher darauf gefasst, dass die Inflation deutlich über dem von den grossen Zentralbanken angestrebten Niveau von etwa 2 Prozent verharren wird. Um sich vor diesem Risiko zu schützen, haben sie inflationsgeschützte Anleihen gekauft, ihr Engagement in Rohstoffen erhöht und ihre Barbestände vergrössert, anstatt sie direkt in Anleihen zu investieren. Sie wetten darauf, dass der Anstieg der Verbraucherpreise nicht so schnell auf das Niveau der letzten Jahrzehnte zurückgehen wird. 

"Die letzten zwanzig Jahre der grossen Mässigung liegen nun vollständig hinter uns", sagte Tiffany Wilding, Nordamerika-Ökonomin bei Pimco, wo Ende Juni rund 1,8 Billionen Dollar (1,8 Billionen Euro) verwaltet wurden. Sie rechnet mit einer Periode sehr volatiler Inflation, da sich die Welt an Veränderungen anpassen wird, die "zu höheren Inputkosten im Allgemeinen führen werden, was eine mehrjährige Anpassung des Preisniveaus zur Folge haben dürfte."

Von hoher Inflation überrascht

Diese Ansichten stehen im Gegensatz zu Spekulationen, dass der Preisdruck so stark nachlassen wird, dass die Federal Reserve im nächsten Jahr mit Zinssenkungen beginnen könnte, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Die Renditen 10-jähriger Benchmark-Staatsanleihen bewegen sich um die 3 Prozent, etwa einen halben Prozentpunkt unter dem Höchststand von Mitte Juni. Und die Inflationserwartungen an den Anleihemärkten für die nächsten zwei Jahre haben sich seit März auf etwa 2,7 Prozent fast halbiert, was nicht allzu weit über dem durchschnittlichen Anstieg von 1,9 Prozent liegt, den ein breiter Preisindex in den 20 Jahren vor der Pandemie verzeichnete.

Sowohl die Geldpolitiker als auch die Märkte waren von der hartnäckig hohen Inflation überrascht, da man zunächst davon ausging, dass es sich um eine vorübergehende Begleiterscheinung der Pandemie handelt, die abklingen würde, sobald sich die Wirtschaft wieder erholt. Am Mittwoch meldete das Vereinigte Königreich, dass die Verbraucherpreise im Juli schneller als erwartet um 10,1 Prozent gestiegen sind, so stark wie seit 1982 nicht mehr. Dies überraschte die Händler, die sich von 2-jährigen Staatsanleihen trennten, was zu einem steilen Anstieg der Renditen führte. 

"Die Marktmeinung, dass die Zentralbanken in der Lage sein werden, die Zinssätze in einer Reihe von Ländern zu senken, wird zu gegebener Zeit in Frage gestellt werden", so Ivailo Vesselinov, Chefstratege bei Emso Asset Management, der erwartet, dass die Renditen etwas längerfristiger Anleihen ansteigen werden, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass die Inflation anhaltender sein wird.

Herausforderung in Europa grösser

Niemand erwartet, dass das derzeitige Inflationsniveau von Dauer sein wird, so dass die Debatte darüber, ob der Höhepunkt der Inflation bereits erreicht ist oder nicht, nebensächlich ist. Die entscheidende Frage ist, was den Volkswirtschaften in den nächsten drei bis fünf Jahren bevorsteht, wenn viele Anleger ein wiederholtes Aufflackern des Preisdrucks erwarten, ähnlich wie während der geopolitischen Turbulenzen in den 1970er Jahren.

Einer der Hauptgründe dafür ist die Erwartung, dass die Handelsspannungen, die hohen Energiepreise und der angespannte Arbeitsmarkt, der die Löhne unter Aufwärtsdruck setzt, nicht bald nachlassen werden. In Europa ist die Herausforderung angesichts der Abhängigkeit der Region von russischen Energielieferungen umso grösser, während die EZB auch die Auswirkungen der Geldpolitik auf 19 unterschiedliche Volkswirtschaften im Auge behalten muss.

Auch wenn die Notenbanker in allen Ländern wiederholt betont haben, dass sie die Geldpolitik so lange straffen werden, bis die Inflation eingedämmt ist, ist es möglich, dass sie angesichts einer starken Konjunkturabschwächung einen Kurswechsel vornehmen werden. Im Protokoll der Fed-Sitzung vom 26. und 27. Juli räumten sie das Risiko ein, dass die Straffung stärker ausfallen könnte als zur Wiederherstellung der Preisstabilität erforderlich. 

Droht eine grosse Rezession und eine höhere Arbeitslosenquote?

Michael Herzum, Leiter Makro und Strategie bei Union Investment, sieht die Gefahr, dass die Fed die Zinsanhebungen vorzeitig beendet, nur um dann erneut damit zu anzufangen, wenn die Inflation wieder anzieht. "Die Betrachtung des Wachstums und nicht nur der Inflation ist ein sehr riskantes Spiel, denn der strukturelle Trend, den wir seit Mitte der 1980er Jahre hatten - der disinflationäre Trend - dreht sich."

Laut Flavio Carpenzano, Investment Director bei Capital Group in London, bedeutet die weltweit angespannte Lage auf den Arbeitsmärkten, dass die Fed eine grosse Rezession und eine höhere Arbeitslosenquote herbeiführen muss, damit die Inflation stark zurückgeht.

Er nutzte die Juli-Rally, um die Bestände an US-Schuldtiteln, die am empfindlichsten auf Zinserhöhungen reagieren, zu reduzieren, und hält China aus der Perspektive der Festverzinslichen für attraktiv, weil die Inflation dort weniger besorgniserregend ist.

"Wir erwarten, dass die Abkühlung der Inflation viel langsamer vonstatten gehen wird, als der Markt erwartet", sagte Carpenzano, dessen Firma Ende letzten Jahres rund 2,7 Billionen Dollar verwaltete. Der Markt liege mit seiner Einschätzung, dass die Fed die Zinsen Mitte 2023 senken werde, daneben. "Die Inflation ist keineswegs ein gelöstes Rätsel, und die Fed wird weiterhin wachsam sein."

Wiederaufbau wird Jahre dauern

Ein weiterer Faktor ist, dass die Unternehmen die zunehmenden politischen Spannungen beim Wiederaufbau der durch die Pandemie erschütterten Lieferketten berücksichtigen. Das könnte die Wirkung einer seit langem bestehenden disinflationären Kraft schwächen: die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Niedriglohnländer. US-Finanzministerin Janet Yellen hat etwa das Konzept des "Friend-Shoring" gefördert, d. h. die Diversifizierung der Lieferketten zwischen verbündeten Ländern zum Schutz vor Störungen. 

"Es wird Jahre dauern, die Handelsnetze und Lieferketten wieder aufzubauen", so Glen Capelo, Managing Director bei Mischler Financial. Die Deglobalisierung sei nicht mehr aufzuhalten. "Das alles wird inflationär sein. Und diese strukturelle Inflation kann die Fed nicht mit höheren Zinsen bekämpfen."

(Bloomberg)