Die Realeinkommen sind in den vergangenen sechs Jahren zwar um 7,6 Prozent gestiegen. Sie liegen aber immer noch unter dem Niveau von 2013. «Was unser Einkommen betrifft, kann man die Zeit von 2014 bis 2023 getrost als verlorenes Jahrzehnt bezeichnen», sagt Ökonom Jewgeni Suworow von der CentroCreditBank. In einer von der Zentralbank in Auftrag gegebenen Umfrage vom Februar gaben 28 Prozent der Menschen an, dass sie nicht genug Geld für Lebensmittel haben oder dass sie sich zwar Nahrung, aber keine Kleidung und Schuhe leisten können. Ein Grund dafür ist die hohe Inflation, die in den vergangenen Jahren deutlich über dem von der Zentralbank angestrebten Wert von vier Prozent lag: 2021 erreichte sie 8,4 Prozent, 2022 sogar 11,9 Prozent und im vergangenen Jahr 7,4 Prozent. Die steigenden Preise für Eier zwangen Putin im Dezember zu einer seltenen Entschuldigung. Das Statistikamt Rosstat hat in diesem Jahr begonnen, in seinen Veröffentlichungen von «veränderten» und nicht von «gestiegenen» Preisen zu sprechen.

Zuletzt ist die Zahl der Russinnen und Russen, die unterhalb der Armutsgrenze von 14.339 Rubel (143 Euro) pro Monat leben, von 12,9 Prozent Ende 2017 auf 9,3 Prozent im vergangenen Jahr gesunken. Allerdings hatte Putin versprochen, die sie halbieren - und das wurde deutlich verfehlt. Daher hat der Präsident ein neues Ziel ausgegeben: sieben Prozent bis 2030.

Ökonomen zufolge waren die wichtigsten Faktoren für den Rückgang der Armut im vergangenen Jahr höhere Löhne - eine Folge des Arbeitskräftemangels - sowie höhere Leistungen für Familien mit Kindern, steigende Gehälter, um Vertragssoldaten anzuziehen, und Entschädigungszahlungen an die Familien der in der Ukraine getöteten und verwundeten Soldaten. Am stärksten stiegen die Löhne dort ab, wo die Rüstungsindustrie stark vertreten ist.

Kriegskosten belasten Staatshaushalt

Derweil gibt Putin neue Versprechen. Mehr als 11,5 Billionen Rubel (115 Milliarden Euro) sagt er für Massnahmen zu, die von Hypothekenzuschüssen und Steuererleichterungen für junge Eltern bis hin zu umfassenden Verbesserungen der öffentlichen Infrastruktur reichen. Zudem verweist Putin darauf, dass die heimische Wirtschaft im vergangenen Jahr mit 3,6 Prozent schneller gewachsen ist als die G7-Ländergruppe um die USA, Deutschland und Japan, die Russland nach dem Einmarsch in der Ukraine mit Sanktionen belegt hat. Andere Daten zeichnen jedoch ein düstereres Bild. Die vom Krieg geprägte Wirtschaft, in der Rüstungsfabriken in drei Schichten rund um die Uhr arbeiten, ist mit Arbeitskräftemangel, Bevölkerungsrückgang, mauer Produktivität und geringen Investitionen konfrontiert.

Die hohen Kriegskosten belasten den Staatshaushalt, in dem inzwischen ein Drittel der Ausgaben auf die Rüstung entfallen. Das hat die Regierung dazu gezwungen, in den vergangenen beiden Jahren fast 6,5 Billionen Rubel aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds zu entnehmen.

In den vergangenen Tagen hat Putin signalisiert, dass die Steuern für Unternehmen und wohlhabendere Privatpersonen steigen könnten. Dabei hatte sein Finanzminister noch im Oktober gesagt, dass sich die Grundsteuern in den nächsten drei Jahren nicht ändern würden. Dem Abgeordneten Anatoli Aksakow zufolge könnte die Einkommenssteuer für Personen, die mehr als fünf oder zehn Millionen Rubel verdienen, auf 17 bzw. 20 Prozent steigen. Aktuell liegt der Spitzensatz bei 15 Prozent. Allein die von Putin in seiner Rede zur Lage der Nation am 29. Februar gemachten Versprechungen werden bis zu zwei Billionen Rubel kosten - pro Jahr.

Geringe Lebenserwartung

Putin bezeichnete den Arbeitskräftemangel als eines der Hauptrisiken für die Wirtschaft, nannte aber keine konkreten Ziele. Hunderttausende Menschen sind seit Beginn des Krieges aus dem Land geflohen oder wurden zum Kampf in der Ukraine einberufen.

Der Präsident hatte 2018 auch das Ziel ausgegeben, die Lebenserwartung bis 2024 auf 78 Jahre zu erhöhen. Im Februar wiederholte er dieses Ziel, obwohl die durchschnittliche Lebenserwartung laut Rosstat Ende 2023 bei 73,1 Jahren lag und erst 2037 die angestrebten 78 Jahre erreichen dürfte.

Ebenfalls verfehlt wurden die Ziele bei der Arbeitsproduktivität. Hier hatte Putin vor sechs Jahren für die Kernsektoren Industrie, Bauwesen, Verkehr, Landwirtschaft und Handel jährlich eine Steigerung um mindestens fünf Prozent zum Ziel gesetzt. Die von Rosstat ermittelte Arbeitsproduktivität sank im ersten Kriegsjahr 2022 allerdings um 3,6 Prozent. Daten für 2023 werden erst Ende dieses Jahres veröffentlicht. Putin sieht in künstlicher Intelligenz eine wichtige Triebkraft für die Produktivität, nannte aber kein neues Ziel.

Schon seit 2012 strebt Russland an, die Kapitalinvestitionen auf 25 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu erhöhen. Putin hat dieses Ziel 2018 wiederholt. Die Realität sieht anders aus: Die Kapitalinvestitionen sanken von 21,4 Prozent im Jahr 2017 auf 19,7 Prozent 2022. Putin erwähnte das Ziel von 25 Prozent dieses Mal nicht.

Ökonomen sagen Russland schwierige Zeiten voraus. «In den kommenden Jahren werden die Spannungen zwischen Präsident Putins doppeltem Ziel, dem militärischen Erfolg in der Ukraine und der makroökonomischen Stabilität im eigenen Land, wahrscheinlich zunehmen», heisst es in einer Analyse von Capital Economics. «Die Wirtschaft kann einen langen Krieg aushalten, aber nicht unbedingt einen intensiveren.»

(Reuters)