Die für 2024 geplante deutliche Erhöhung des Bürgergeldes für über fünf Millionen Erwachsene und Kinder schürt eine Debatte, ob sich Arbeit noch lohnt. «Diese Erhöhung mag angemessen sein, aber sie verschärft das Problem des geringen Lohnabstands», sagte Wirtschafts-Professor Ulrich Schmidt vom Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) der Nachrichtenagentur Reuters. Hängen somit Sozialleistungen die Löhne ab? Enzo Weber von Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) widerspricht. Massgeblich sei die Lohnentwicklung im unteren Einkommensbereich, sagte Weber zu Reuters. Der Mindestlohn sei 2022 um über 20 Prozent gestiegen. Entscheidend sei, Geringverdienern den Aufstieg zu ermöglichen.

Die Wissenschaftler liegen mit ihren Einschätzungen gar nicht so weit auseinander, wie es scheint. Der IfW-Experte Schmidt hat die Einkommenssituation von Mindestlohn-Haushalten und Bürgeldbeziehenden verglichen. Der Arbeitsmarkt-Experte Weber wendet sich vor allem gegen eine Arbeitspflicht-Debatte, die den Niedriglohnsektor wieder ausweiten könnte.

«Mehr Haushalte haben netto weniger als im Bürgergeld»

Die Bundesregierung will am Mittwoch grünes Licht geben für die Verordnung von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Um 12,2 Prozent auf bis zu 563 Euro monatlich für einen alleinstehenden Erwachsenen steigen die Zahlungen zum Lebensunterhalt ab 2024. Die Übernahme der Wohnungskosten kommt noch hinzu.

Der Kieler Experte Schmidt hatte im vorigen Jahr die Lage von Arbeitnehmer- und Bürgergeldhaushalten verglichen. Dabei bezog er Kindergeld und Wohngeld-Plus ein. Er veranschlagte für 2023 das Bruttoeinkommen eines Alleinverdienenden mit Mindestlohn bei 1986 Euro. Dessen fünfköpfige Familie stünde mit Kinder- und Wohngeld demnach mit Netto-Einkünften von 3357 Euro um bis zu 369 Euro schlechter da als der gleiche Haushalt, der nur Bürgergeld inklusive der Übernahme der Wohnungskosten erhält. Wenn 2024 das Bürgergeld um gut zwölf Prozent steigt, der Mindestlohn aber nur um 3,4 Prozent auf 12,41 Euro zulegt, vergrössert sich die Kluft nochmals.

«Mit der geplanten Erhöhung des Bürgergeldes werden fast alle Haushalte, in denen ein Alleinverdiener in Vollzeit zum Mindestlohn arbeitet, netto schlechter gestellt sein als mit dem Bürgergeld», sagte Schmidt. Das bedeute nicht zwangsläufig, dass sie mit weniger Geld auskommen müssten. Sie können Leistungen wie aufstockendes Bürgergeld oder Kinderzuschlag beantragen. Durch die Zuverdienst-Regeln sei «sichergestellt, dass ein Haushalt mit einer in Vollzeit arbeitenden Person immer ein um mindestens 348 Euro (ohne Kinder) oder 378 Euro (mit Kindern) höheres Einkommen hat als der gleiche Haushalt ohne Job».

Höherer Lohnabstand erstrebenswert

Mehr als jeder fünfte erwachsene Bürgergeldbeziehende ist so ein Aufstocker-Haushalt, der Einkommen aus Arbeit erzielt und zudem anteilig Bürgergeld erhält. Im Jahresdurchschnitt 2022 waren dies nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) knapp 813.000 der 3,7 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Abzüglich der Selbstständigen blieben etwa 750.000 abhängig erwerbstätige Bürgergeldbeziehende, von denen aber fast die Hälfte (45 Prozent) nicht mehr als einen Minijob ausübte.

Wer erstmal im Bürgergeld ist, hat nach Ansicht Schmidts wenig Anreize, einen gering bezahlten Vollzeitjob anzunehmen. Lukrativ ist indes ein Minijob bis 520 Euro, weil die ersten 100 Euro nicht vom Bürgergeld abgezogen werden. Danach steigen die Abzüge. Schmidt sieht es kritisch, dass 2024 automatisch mehr Haushalte ins Bürgergeld rutschen, weil sie mit ihrem Einkommen nicht mehr über das dann angehobene Existenzminimum kommen.

«Es würdigt die Arbeit herab, wenn man sich beim Jobcenter als bedürftig melden und die Einkommens- und Vermögenssituation offenlegen muss», sagte Schmidt. «Wenn man erst einmal im System drin ist, dann sinkt meines Erachtens zudem die Hemmschwelle, gar nicht mehr zu arbeiten oder nur noch einem Minijob nachzugehen. Dann überlegt man sicher, ob man jeden Morgen um 06.00 Uhr aufstehen soll für die bis zu 378 Euro mehr.»

Auch Weber von der IAB-Denkfabrik der BA hielte einen grösseren Abstand von Löhnen zu sozialen Leistungen für richtig. «Ich würde nicht sagen, dass der Abstand zu Lohnempfängern zu gering ist», sagte Weber. «Aber ein höherer Abstand wäre erstrebenswert. Das schaffen wir nur, wenn wir den Niedriglohn-Sektor so organisieren, dass Menschen den Aufstieg schaffen.»

Weber warnte davor, in Zeiten der Arbeitskräfteknappheit Erwerbslose zu drängen, jede bezahlte Arbeit anzunehmen. «Es wäre genau das Falsche, Leute mit oberster Priorität in den erstbesten Job zu vermitteln.» Es müsse darum gehen, den Berufsaufstieg und damit ein besseres Einkommen zu ermöglichen. «Da geht das Bürgergeld schon in die richtige Richtung», sagte Weber mit Blick auf die Qualifizierungs-Förderung. Wer im Bürgergeld eine Weiterbildung macht, bekommt seit Mitte 2023 eine zusätzliche monatliche Unterstützung von 150 Euro. Die Vermittlung in Arbeit steht nicht mehr an erster Stelle: Der Erwerb eines Berufsabschlusses und Weiterbildung haben Vorrang.

Auch Schmidts Vorschläge zielen darauf ab, die Situation von Geringverdiener-Haushalten zu verbessern. «Das könnte man durch die Kindergrundsicherung erreichen, wenn die Zahlungen für Kinder in einkommensärmeren Haushalten stärker erhöht werden», sagte der IfW-Forscher. «Ein anderer Ansatz wäre ein Freibetrag bei den Sozialbeiträgen.» Oder auch eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns. «Wenn man sagt, das Bürgergeld muss aufgrund der Inflation so stark steigen, müsste der Mindestlohn eigentlich parallel genauso stark steigen», sagte Schmidt.

Der Mindestlohn wird allerdings von einer Kommission aus Gewerkschaften und Arbeitgebern festgelegt, die sich an der Lohnentwicklung orientiert. Sie ging in diesem Sommer im Streit auseinander. Heraus kam dabei eine Erhöhung in zwei Schritten um jeweils 41 Cent für 2024 und 2025.

Das Bürgergeld dagegen folgt einem gesetzlich festgelegten Rechenweg, bei dem die Preisentwicklung grösseres Gewicht hat. Ausschlaggebend sind die Verbrauchsausgaben von Geringverdiener-Haushalten, aus denen das Statistikamt einen Preisindex für die «regelbedarfsrelevanten» Ausgaben errechnet. Tabak etwa gehört nicht dazu, dafür schlagen Lebensmittel stärker zu Buche. Und diese haben sich stärker verteuert als vieles andere. In dem Reuters vorliegenden Entwurf der «Regelbedarfsstufen-Fortschreibungverordnung» wird daher für die Erhöhung des Bürgergeldes eine Inflationsrate von 9,9 Prozent veranschlagt - deutlich mehr als die allgemeine Inflation.

(Reuters)