Die seit Tagen aus dem Stausee strömenden Wassermassen haben unzählige Landminenfelder aufgewühlt, die die Kriegsparteien während des seit 15 Monaten tobenden Konflikts zur gegenseitigen Abwehr anlegten. Niemand weiss, wo die mitgerissenen Sprengfallen jetzt sind. Vielleicht stecken sie im Flussbett oder sie sind an die schlammbedeckten Ufer des Dnipro getrieben. Genauso gut könnten sie aber auch plötzlich auf überflutetem Ackerland auftauchen, auf Strassen und Wiesen oder in Gärten des riesigen Überschwemmungsgebiets, durch das sich eine der Fronten zwischen ukrainischen und russischen Soldaten zieht. Das gefährdet nicht nur Tausende Bewohner über Jahre hinweg. Auch für die Rettungskräfte vor Ort wird der Einsatz dadurch immer riskanter.
"In der Vergangenheit wussten wir, wo die Gefahren lauerten. Jetzt wissen wir es nicht mehr. Wir wissen nur, dass sie sich irgendwo flussabwärts befinden", sagte Leif Tollefsen, der beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz die Abteilung gegen Waffen-Kontaminierung leitet, in einer am Donnerstag verbreiteten Tonaufzeichnung. "Die Nachrichten, die uns erreichen, sorgen bei uns für gewisses Entsetzen." Tollefsen verwies darauf, dass etwa Minen aus dem Zweiten Weltkrieg, die 2015 in Dänemark unter Wasser entdeckt worden waren, immer noch funktionsfähig gewesen seien. Wieviele Minen und nicht gezündete oder explodierte Kampfgeschosse in dem von dem Dammbruch betroffenen ukrainischen Gebiet liegen, konnte der Experte nicht sagen. "Wir wissen nur, die Zahlen sind immens."
Der Kachowka-Staudamm liegt im umkämpften Süden der Ukraine. Er war am Dienstag zerborsten. Für die Zerstörung des Bauwerks, das noch aus Sowjetzeiten stammt, machen sich die Kriegparteien Russland und Ukraine gegenseitig verantwortlich. Die Wassermassen schiessen seit dem Dammbruch unkontrolliert in den Dnipro. Ganze Landstriche sind überschwemmt, unzählige Ortschaften von der Aussenwelt abgeschnitten. Zehntausende Menschen warten auf Rettung. Es wird befürchtet, dass sich Krankheiten und Seuchen ausbreiten.
Selenskyj besucht Überschwemmungsgebiet
Am Morgen machte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Bild von der Lage bei einem Besuch der betroffenen Region Cherson. "Viele wichtige Fragen wurden besprochen. Die operative Lage in der Region infolge der Katastrophe, die Evakuierung der Bevölkerung aus potenziellen Überschwemmungsgebieten, die Beseitigung der durch die Dammexplosion verursachten Notlage, die Organisation der Lebenserhaltung in den überschwemmten Gebieten", fasste er seinen Besuch auf Telegram zusammen. Ausserdem sei es um die Wiederherstellung des Ökosystems der Region und die operative militärische Lage in dem "von Menschen gemachten Katastrophengebiet" gegangen.
In Cherson stehen nach Angaben der Behörden rund 600 Quadratkilometer Land unter Wasser. 68 Prozent davon lägen auf der von Russland besetzten linken Uferseite des Dnipro, erklärte Regionalgouverneur Olexandr Prokudin in einer Videobotschaft. "Wir werden jedem helfen, der in Probleme geraten ist", versprach er. Bis Donnerstagmorgen hätten fast 2000 Menschen die Gegend verlassen können. Die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass meldete unter Berufung auf russische Sicherheitsdienste, fast 4300 Menschen seien bislang in Sicherheit gebracht worden. Mehr als 14.000 Häuser seien überschwemmt worden.
Beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, ungeachtet der dramatischen Lage ihren Beschuss fortzusetzen. Unabhängig überprüfen liessen sich die Angaben nicht. Der Kreml in Moskau erklärte, die Ukraine feuere auf russische Rettungskräfte. Der ukrainische Gouverneur Prokudin sagte, "trotz der immensen Gefahr und ständigen russischen Beschusses wird die Evakuierung aus den Überschwemmungsgebieten fortgesetzt". Eine ukrainische Militärsprecherin führte an, wegen der Wassermassen hätten sich die russischen Truppen in der Region Cherson um fünf bis 15 Kilometer zurückziehen müssen. Dies habe den russischen Beschuss in der Region "praktisch halbiert".
(Reuters)