cash.ch: Die US-Börsen haben sich nach dem «Liberation Day» Anfang April überraschend schnell erholt und notieren auf Rekordhoch. Sind Sie überrascht?
Carlos Mejia: Ja, teilweise. Die Aussichten waren damals natürlich sehr beunruhigend. Wir haben uns gefragt, ob die angekündigten Änderungen tatsächlich umgesetzt würden. Denn wir wussten aus der Erfahrung, dass die US-Regierung nicht immer genau das umsetzt, was sie ankündigt. Dieses Risiko war uns also bewusst. Die geplanten Massnahmen waren zudem extrem. Unserer Meinung nach hätten sie der US-Wirtschaft, so wie sie geplant waren, sofort geschadet. Die anfängliche Reaktion der Regierung war daher abzuwarten. Der Anleihemarkt signalisierte deutlich, dass die Umsetzung dieser Massnahmen nicht nur für die Regierung, sondern für alle sehr schmerzhaft sein würde.
Seither hat die US-Regierung gewisse Zölle zurückgenommen. Ist nun alles wieder normal?
Das glauben wir nicht. Seither sehen wir in der US-Politik diese Unzuverlässigkeit als Faktor, den wir uns vor jeder Anlageentscheidung genau ansehen müssen. Die Märkte haben sich wahrscheinlich so verhalten, wie es zu erwarten war. 2023 und 2024 hatten wir ein sehr starkes US-Exposure, welches wir auf dieses Jahr hin zurückgefahren haben. Seither ist unsere Position bei US-Aktien neutral. Das hat gut funktioniert, da die Bewertungen Ende letzten Jahres teuer waren und die politische Lage sehr unsicher war. Ich finde es schwierig, in einem solchen Umfeld klare Überzeugungen zu haben. Es geht zu viel Unsicherheit und Unzuverlässigkeit von der US-Regierung aus.
Trotz Unsicherheiten und hohen Bewertungen geht die Rally an den US-Börsen weiter.
Wenn wir uns die Kennzahlen ansehen, weichen diese um etwa zwei Standardabweichungen vom langfristigen Trend ab - und hier beginnen die Probleme. Bewertungskennzahlen sind in zwei Fällen ein guter Indikator: Zum einen, wenn sie extrem sind, und zum anderen, wenn wir einen langfristigen Anlagehorizont betrachten. Kurzfristig konzentriert sich der Markt eher auf die übrigen fundamentalen Faktoren. Aktuell, insbesondere in den USA, sind die Gewinne weiterhin zufriedenstellend. Die Bewertungskennzahlen werden durch das Wirtschaftswachstum gestützt. Zudem gibt es im US-Aktienmarkt eine zweiteilige Performance-Entwicklung: Einerseits die Aktien im KI-Sektor, andererseits der Rest des Marktes. Das spielt natürlich eine grosse Rolle. Entfernen wir die zehn grössten Unternehmen aus dem Index, zeigt sich, dass der Rest des Marktes nicht überbewertet ist. Die Überbewertung im Gesamtmarkt ist also vor allem auf die Erwartungen in KI-nahen Bereichen zurückzuführen. Ist der Markt teuer? Der Technologiebereich ist teurer als der Rest des Marktes. Insgesamt teuer, aber die Gewinne rechtfertigen diese Bewertung.
Hängt nicht zu viel vom KI-Sektor ab?
Die Konsumausgaben in den USA sind weiterhin robust. Es ist nicht so, dass die Menschen nur in Technologie investieren. Rund 65 Prozent des BIP-Wachstums sind Konsumausgaben, auch wenn ein grosser Teil des Wachstums aus der Expansion im Bereich der künstlichen Intelligenz stammt. Eines ist dabei klar: die künstliche Intelligenz ist gekommen, um zu bleiben. Anders als der Markt glauben wir nicht an eine Revolution, sondern an eine Evolution. Die erste Phase wird vor allem in der Steigerung der Produktivität und der Förderung der Kreativität bestehen. Um dies zu erreichen, bedarf es einer breiten Akzeptanz und Anwendung. Das bedeutet, dass das Produkt verstanden wird und Leute geschult werden müssen, um das nötige Wissen zu haben. Jeder möchte das nutzen, aber nicht jeder kann es sich leisten.
Das Preisschild für KI-Technologie hemmt also die Implementation?
Hemmen ist übertrieben. Vielmehr sehen wir ein allmähliches Wachstum, da kräftig investiert wird. Wir haben die bedeutende Entwicklung von Computerchips und Elektronik gesehen, um dieses Wachstum zu unterstützen. Wir glauben, dass künstliche Intelligenz weiterhin relevant sein wird, aber der Markt hat sich anfangs überschätzt. Dieses Jahr hat der Markt erkannt, dass das erwartete Wachstum nicht so schnell kommen wird. Daher wachsen Unternehmen wie NVIDIA nicht mehr jedes Jahr doppelt so stark. Dieses Jahr ist es etwas gemächlicher. Man achtet mehr auf Nachrichten, Gewinnwachstum und Erwartungen.
Was bedeutet das für das weitere Kurspotenzial?
Es ist für Anlegerinnen und Anleger von entscheidender Bedeutung, über einen Zehn-Jahres-Horizont hinaus zu denken. Wenn Sie mich in zehn Jahren fragen würden, ob wir heute in US-Technologieunternehmen investieren sollten, würde ich Ja antworten. Dies, weil der Kursverlauf natürlich von der Bewertung der Unternehmen bestimmt wird, die aktuell etwas überbewertet sind. Letztendlich hängt er aber vom Wachstum der Unternehmen ab. Dieses Wachstum wiederum wird durch das Wirtschaftswachstum angetrieben. Die USA sind insofern besonders, als dass die Wirtschaft dort weniger anfällig für externe Einflüsse ist als in vielen anderen Ländern. Wir gehen davon aus, dass sich dieser Trend von 2,5 Prozent Wirtschaftswachstum in den nächsten zehn Jahren fortsetzt, wobei die Inflationsrate etwas über dem Zielwert von 2 Prozent liegen dürfte, wahrscheinlich zwischen 3 und 4 Prozent. Wir sind überzeugt, dass dies der Weltwirtschaft und damit auch dem Aktienmarkt insgesamt einen deutlichen Schub verleihen wird.
Also sollte weiterhin in Technologiefirmen investiert werden?
Ja, wir wollen investieren. Wir raten allerdings eher ab, das gesamte Kapital auf einmal einzusetzen. Vielmehr ist ein schrittweises Vorgehen empfehlenswert. Je nach Anlagekompetenz des Kunden wählen wir unterschiedliche Strategien. Manche Kunden bevorzugen beispielsweise Optionen oder strukturierte Produkte, um das Investment zu verzögern. Die Kunden investieren also zunächst einen Teilbetrag und warten dann ab, ob der Markt um 10, 15 oder 20 Prozent fällt, bevor sie den Restbetrag investieren.
Die Gesamtrendite von US-Aktien lag in den letzten 30 Jahren bei 8 bis 9 Prozent. Besteht dieses Potenzial weiterhin?
Wir denken, dass die Renditen im nächsten Jahrzehnt niedriger sein werden als in den letzten Jahrzehnten. Aber immer noch hoch genug, um die Inflation zu übertreffen. Wir sprechen eher von 5-6 Prozent als von 8-10 Prozent. Wenn wir höhere Renditen erzielen wollen, müssen wir andere Risiken eingehen. Nicht Aktienmarktrisiko, sondern vielleicht Illiquiditätsrisiko und dann in den Private-Equity-Markt gehen, wo Private Debt und Private Equity diese zusätzliche Rendite bieten können. Aber wenn wir eine bestimmte Rendite anstreben, um die Inflation zu übertreffen, bleiben Aktien eine gute Alternative.
Ist der Schweizer Aktienmarkt in diesem Kontext attraktiv?
Wir sind der Ansicht, dass verschiedene Märkte im Portfolio unterschiedliche Vorteile bieten. Im Fall des Schweizer Marktes, in den wir investieren, liegt der Fokus weniger auf der potenziellen Gesamtrendite, sondern vielmehr auf der Stabilität und dem Diversifizierungseffekt. In Krisenzeiten tendiert der Schweizer Markt aufgrund der hohen Konzentration auf defensive Branchen wie Lebensmittelindustrie und Pharmaunternehmen dazu, die übrigen Märkte zu übertreffen. Das ist besonders attraktiv in Zeiten politischer Unsicherheit. Wenn alles schiefgehen kann, braucht man im Portfolio eine Quelle der Stabilität. Ein weiterer attraktiver Aspekt, insbesondere für mittel- bis langfristig orientierte Anleger, ist die Innovationskraft der Schweizer Wirtschaft. In den letzten 14 Jahren belegte die Schweiz regelmässig den ersten Platz im Innovationsindex. Es gibt zahlreiche innovative Unternehmen mit Wachstumspotenzial. Wir investieren daher sowohl in grosse, stabile Unternehmen als auch in kleinere, innovative Mittelständler. Kurz gesagt: Ja, die Schweiz ist weiterhin ein attraktiver Markt. Aber es ist eher unwahrscheinlich, dass die Schweiz die höchste Rendite generiert.
Kann die Schweiz diese Position auch dann beibehalten, wenn wir einen Anlagehorizont von 10 Jahren ansetzen? Oder bestehen hier Risiken?
Wenn wir heutzutage über die Schweiz sprechen, ist es unmöglich, die hohen Zölle der USA zu ignorieren. Die beiden grössten Märkte der Schweiz – die EU und die USA – haben ohnehin ihre eigenen Probleme. Es wird also schwierig sein, dass die Schweiz davon unberührt bleibt. Zudem handeln die Notenbanken immer koordinierter. Das bedeutet, dass bei Zinsänderungen weltweit auch die Schweiz betroffen sein wird. Ob es der Schweiz gut gehen wird, hängt vom Rest der Welt ab. Aber die Schweiz hat eine stabile Wirtschaft, Innovation und stabile Märkte. Der Schweizer Franken ist ein sicherer Hafen, den andere Währungen möglicherweise verlieren. Ich denke, die Zinsen werden voraussichtlich niedrig bleiben. Für Schweizer Franken-Anleger könnte das schwierig sein. Deshalb empfehlen wir unseren Kunden die Diversifizierung.
Carlos Mejia, CIO bei der Rothschild & Co Bank Schweiz und in dieser Funktion Mitglied der Geschäftsleitung. Er kam 2012 von der Investec Bank zu Rothschild & Co, wo er zwischen 2010 und 2012 als Chief Investment Officer und Head of Portfolio Management tätig war. Von 2005 bis 2010 arbeitete er für die UBS als Head of Investment Strategy and Portfolio Construction (London) und als Head of Asset Allocation für diskretionäre Portfolios (Zürich).