Vielmehr war es die beispiellose Geschwindigkeit einer Energiewende, die innerhalb eines Jahres die Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen fast vollständig beseitigt hat, um die wichtigste Quelle für Präsident Wladimir Putins Kriegskasse trockenzulegen.

Diese Energiewende hatte nichts mit der zu tun, die die Europäische Union wegen des Klimawandels anstrebt. Im Gegenteil wurden Rekordpreise für fragwürdige Brennstoffe wie Flüssiggas bezahlt, massig Kohle verbrannt und Ökopläne verschoben. Vor allem aber war sie teuer - Schätzungen reichen bis rund 1 Billion Euro, die durch hunderte Milliarden staatliche Subventionen abgefedert werden mussten.

Dennoch - selbst die optimistischsten Prognosen von Analysten und Politikern hätten zu Beginn des Krieges nicht vorhersagen können, wie schnell sich die EU bewegen würde. Vor einem Jahr gab Europa täglich etwa eine Milliarde Dollar für Gas-, Öl- und Kohleimporte aus Russland aus. Heute ist es nur noch ein Bruchteil davon.

«Schneller, als wir erwartet hatten»

"Russland hat uns erpresst, indem es gedroht hat, die Energieversorgung zu kappen", sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang Februar. "Wir haben uns vollständig von unserer Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen befreit. Das ging viel schneller, als wir erwartet hatten."

Eine Reihe von Umständen half dabei: Dass Europa schon vor Jahren mit der Umstellung auf erneuerbare Energien begonnen hat, zahlte sich aus. Die warme Witterung trug erheblich dazu bei, dass der Heizbedarf sank. Viele energieintensive Industrien wurden einfach heruntergefahren, weil sie sich den Betrieb zu den gestiegenen Preisen nicht mehr leisten konnten.

Doch das vergangene Jahr hat eben auch gezeigt, dass es möglich ist, den Einsatz von Solarzellen und Batterien zu beschleunigen, den Energieverbrauch zu senken und fossile Energieträger dauerhaft zu ersetzen.

Bei Solaranlagen legte Europa im vergangenen Jahr um den Rekordbetrag von 40 Gigawatt zu, ein Plus von 35 Prozent im Vergleich zu 2021. Angetrieben wurde dieser Sprung in erster Linie von den Verbrauchern selbst, die eine Möglichkeit sahen, ihre Energiekosten zu senken. Doch unterm Strich trieb dies den Ausbau der Solarenergie um Jahre voran.

Die Beschleunigung kam noch vor den neuen Anreizen der EU für Solarenergie, die "wahrscheinlich noch nicht wirklich greifen", sagt Jenny Chase, Analystin bei BNEF. "Im Bereich der Solarenergie hat sich alles nur aufgrund der Nachfrage der Verbraucher entwickelt."

Viele, die Solarpaneele auf ihren Dächern installierten, bauten auch Speicher ein. Nach Angaben von BNEF wuchs die Batteriekapazität um rekordverdächtige 79 Prozent, vor allem im privaten Sektor, wo sie sich fast verdoppelte - und das, obwohl die Batteriepreise erstmals stiegen.

Auch Windkraft wuchs, wenn auch weniger als erwartet. Die Inflation wirkte hier stärker bremsend. Hinzu kommen bürokratische Hürden, so Oliver Metcalfe, Analyst bei BNEF. "Die Energiekrise hat die Politik dazu veranlasst, einige der Probleme bei den Genehmigungsverfahren zu lösen", meint er.

Was ist mit fossilen Brennstoffen passiert?

Doch der Ausbau der erneuerbaren Energien hätte niemals ausgereicht, so schnell aus russischem Öl, Gas und Kohle auszusteigen. Der Einmarsch in die Ukraine hat die Situation grundlegend verändert. Im Laufe des ersten Halbjahrs drosselte die staatliche Gazprom die Gaslieferungen durch die russischen Pipelines unter der Ostsee, durch Weissrussland und die Ukraine immer weiter. Anfangs unter dem Vorwand von Wartungsarbeiten, die angeblich durch westliche Sanktionen erschwert wurden. Schliesslich wurden die Lieferungen durch Nord Stream ganz eingestellt, nachdem Explosionen die Ostseeleitung unbrauchbar gemacht hatten. Im Ergebnis kam Ende des Jahres nur noch ein Viertel der Vorkriegsmengen durch russische Pipelines nach Europa.

Zugleich stürzte der Ausstieg aus dem billigen russischen Gas die europäische Wirtschaft nicht in den Abgrund. Das Bruttoinlandsprodukt der EU wuchs 2022 um 3,5 Prozent - nicht dramatisch weniger als die vor Ausbruch des Krieges erwarteten 4 Prozent. Noch im Herbst wurde eine Rezession im laufenden Jahr als unvermeidlich angesehen, nun erwartet die EU immer noch 0,9 Prozent Wachstum.

"Fast ein Jahr nachdem Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, steht die EU-Wirtschaft besser da als im Herbst erwartet", so die Europäische Kommission in ihrem jüngsten Wirtschaftsbericht. "Die Inflation scheint ihren Höhepunkt erreicht zu haben, und die günstigen Entwicklungen auf den Energiemärkten lassen einen weiteren kräftigen Rückgang erwarten."

Mehr Erdgas aus Algerien und Norwegen

Ein Teil des russischen Erdgases wurde durch verstärkte Pipelinelieferungen aus Algerien und Norwegen ersetzt. Der grösste Teil kam per Schiff in Form von verflüssigtem Erdgas (LNG), hauptsächlich aus Katar und den USA. Insgesamt verdoppelten sich die LNG-Importe der EU im Vergleich zu 2021 beinahe. Und ironischerweise kam ein grosser Teil davon wiederum aus Russland. Dank der warmen Temperaturen sind die Gasspeicher für den nächsten Winter immer noch recht gut gefüllt.

Zum Teil wurde die Gasnachfrage auch dadurch reduziert, dass mehr Kohle in Kraftwerken verfeuert wurde. Der Kohleverbrauch in der Europäischen Union stieg im vergangenen Jahr um 7 Prozent. Dabei fielen die Importe aus Russland im Laufe des Jahres immer weiter und kamen im Oktober nach Inkrafttreten der Sanktionen fast völlig zum Erliegen.

Der grösste Schub kam jedoch durch den Rückgang der Nachfrage sowohl der Industrie als auch der Haushalte. Als der Gaspreis in die Höhe schoss, wurde der Betrieb für einige Branchen unwirtschaftlich, etwa für Düngemittelhersteller. Andere ersetzten Gas durch andere Brennstoffe. Insgesamt sank der Verbrauch um 18 Prozent, mehr noch als der Rückgang von 14 Prozent im Pandemie-Jahr 2020. Bei der Heizung von Privathaushalten ging der Verbrauch um 15 Prozent zurück, wie BloombergNEF errechnet hat.

Gleichzeitig stieg der Absatz von Wärmepumpen rapide an. Ersten Schätzungen zufolge könnte der Absatz auf dem Kontinent um 38 Prozent gestiegen sein. Wärmepumpen sind hocheffizient, benötigen weniger Energie und sind billiger zu betreiben. "Die Vorstellung, dass Russland ein zuverlässiger Energielieferant ist, ist tot", sagt Thomas Nowak, Leiter des Europäischen Wärmepumpenverbands. "Jetzt fragen sich die Leute: ‘Bin ich der letzte Mensch mit einer Gastherme?’"

Anders liegt die Sache bei den Ölimporten, die nicht annähernd so stark zurückgingen. Die Importe aus Russland sanken um nicht einmal ein Zehntel auf 3,1 Millionen Barrel pro Tag, womit Moskau weiter mit Abstand der grösste Lieferant blieb. Dafür kaufte Europa sein Öl vermehrt in den USA, Saudi-Arabien und Norwegen. Erst die jüngsten Sanktionen gegen Rohölimporte und raffinierte Produkte wie Diesel werden diese Importe zum Erliegen kommen lassen.

"Öl ist schwerer zu ersetzen", sagt Christof Ruhl, von der Columbia University, ein ehemaliger Chefökonom der BP. "Es ist der riskanteste Bereich, denn wenn die Ölpreise um 20 Prozent steigen, riskiert man eine weltweite Rezession."

Wie geht es weiter?

Während das milde Wetter Europa in die Hände spielte, verschärfte eine andere Folge der Erderwärmung im vergangenen Sommer die Krise: Unter der schlimmsten Dürre seit 500 Jahren auf dem Kontinent litt die Wasserkraft, die zuvor eine zuverlässige Quelle für erneuerbare Energie war.

Ein noch grösseres Problem bereitete die alternde Flotte der französischen Atomkraftwerke. Wartungsarbeiten nahmen einen grossen Teil der Meiler aus dem Spiel und entzogen Europa eine seiner grössten Quellen CO2-armen Stroms. Statt Elektrizität zu exportieren, wie üblich, mussten Nachbarn wie Deutschland aushelfen, was die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen ankurbelte.

Diesen Winter speist Frankreichs allmählich wieder mehr Atomstrom ins Netz, wobei die Produktion weiterhin unter den historischen Werten liegt. Dennoch dürften die höhere Kernkraftleistung und eine bessere Wasserlage helfen, die Nachfrage nach Gas und Kohle für die Stromerzeugung im Jahr 2023 zu senken.

Trotz all dieser Umstellungen werden die Treibhausgasemissionen der EU wohl um knapp 1 Prozent sinken. Der höhere Ausstoss durch die Kohleverstomung wurde teilweise ausgeglichen durch den geringeren Einsatz von Gas. In diesem Jahr wird die Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen laut BloombergNEF im Vergleich zum Vorjahr um 43 Prozent sinken.

"In Europa sehen wir eine weitere Beschleunigung der Dekarbonisierung", sagt Fatih Birol, Exekutivdirektor der Internationalen Energieagentur. "Russland verliert den Energiekampf."

(Bloomberg)