Ein Elektrizitätswerk in der Nähe von Kiew wurde dem Betreiber zufolge vollständig zerstört. In der nordöstlichen Oblast Charkiw sei notgedrungen mindestens 200.000 Menschen der Strom abgeschaltet worden. In der südlichen Stadt Mykolajiw seien vier Menschen getötet worden. Insgesamt habe Russland mit 82 Raketen und Drohnen angegriffen, erklärte das Militär. 18 Raketen und 39 Drohnen seien von der Luftabwehr abgeschossen worden. Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte angesichts der anhaltenden Angriffe sowie schrumpfender Bestände an Luftabwehrausrüstung und Artillerie erneut mehr Hilfe vom Westen.
Das russische Verteidigungsministerium sprach von «massiven Angriffen» mit hochpräzisen Langstreckenwaffen und Drohnen, bei denen Öl-, Gas- und Energieanlagen in der Ukraine getroffen worden seien. Dadurch sei die Arbeit ukrainischer Unternehmen der Militärindustrie gestört sowie der Nachschub in Kampfgebiete und die Treibstoff-Versorgung der ukrainischen Streitkräfte erschwert worden. Seit März hat Russland seine Luftangriffe auf das ukrainische Energiesystem wieder erheblich verstärkt.
Selenskyj drängte wieder auf mehr westliche Militärhilfe. «Wir brauchen Luftabwehr und andere Verteidigungsmittel, keine Augenwischerei und keine langen Diskussionen», sagte er. Vor allem die wichtige US-Militärhilfe hat wegen einer Blockade durch die Republikaner im Kongress stark nachgelassen. Bei einer Konferenz mit mehreren europäischen Staaten in Litauen wollte er für mehr Militärhilfe werben. Dazu verkündete Selenskyj ein zehnjähriges Sicherheitsabkommen mit Lettland. Es sehe eine jährliche militärische Unterstützung für die Ukraine von 0,25 Prozent der lettischen Wirtschaftsleistung vor. Dabei gehe es um Cyberabwehr, Minenräumung und Drohnentechnologie. Zudem wolle sich Lettland für den Beitritt der Ukraine zur EU und Nato einsetzen. Ein ähnliches Abkommen sollte auch mit Litauen unterzeichnet werden.
Das mit Kohle betriebene Wärmekraftwerk Trypilska in der Nähe der Hauptstadt wurde bei den russischen Angriffen völlig zerstört, wie ein führender Vertreter des Betreibers Reuters mitteilte. Unbestätigte Aufnahmen, die auf Online-Plattformen geteilt wurden, zeigten ein Feuer in der grossen Anlage, die aus der Sowjetzeit stammt, und schwarzen Rauch aufsteigen. Das Kraftwerk war ein wichtiger Stromlieferant für die Regionen Kiew, Tscherkassy und Schytomyr und die letzte Anlage des staatlichen Energieunternehmens Centrenergo. «Alles ist zerstört», sagte Aufsichtsratschef Andrij Gota auf die Frage nach der Situation bei Centrenergo.
Der Netzbetreiber Ukrenergo teilte mit, dass Umspannwerke und Anlagen zur Stromerzeugung in den Regionen Odessa, Charkiw, Saporischschja, Lwiw und Kiew beschädigt worden seien. In der Stadt Charkiw, die nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt, schlugen den Behörden zufolge mindestens zehn Raketen ein. Hier wurden mindestens vier Menschen getötet und fünf weitere verletzt. Privathäuser, Autos und Industrieanlagen seien beschädigt worden. In der umliegenden gleichnamigen Region habe der Strom für 200.000 Menschen abgeschaltet werden müssen. Der grösste private ukrainische Stromversorger DTEK sprach von schweren Schäden bei Angriffen auf zwei seiner Kraftwerke. Das Unternehmen war erst im vergangenen Monat von den schwersten russischen Luftangriffen seit Beginn der Invasion im Februar 2022 massiv getroffen worden.
Aber nicht nur die ukrainische Energieversorgung steht immer mehr unter Druck, auch das Militär gerät an der Front im Osten zunehmend in die Defensive. Nach mehr als zwei Jahren Krieg sind die Truppen erschöpft, es melden sich deutlich weniger Freiwillige und es gibt viele Wehrdienstverweigerer. Zur Stärkung der Armee hat das ukrainische Parlament nach monatelangen Beratungen nun eine Reform der Mobilmachungsregelen verabschiedet. Die Gesetzesänderung soll es der Regierung in Kiew ermöglichen, mehr Soldaten einzuberufen. Unter anderem sind eine bessere Registrierung wehrfähiger Männer und finanzielle Anreize für Freiwillige vorgesehen. Zudem gibt es keine Begrenzung der Dienstzeit einberufener Zivilisten während des Krieges. Der Abgeordnete Olexander Fedienko sagte, die Verabschiedung des Mobilmachungsgesetzes sei eine «Botschaft an unsere Partner, dass wir bereit sind, unser Territorium zurückzuerobern, und dass wir Waffen brauchen».
(Reuters)