Im schwersten Machtkampf in Russland seit Jahrzehnten fordert der Militärunternehmer Jewgeni Prigoschin Staatspräsident Wladimir Putin offen heraus. Prigoschin übernahm mit seiner Söldnergruppe Wagner am Samstag die Kontrolle über die südrussische Millionenstadt Rostow am Don, die ein wichtiger Stützpunkt im Krieg gegen die Ukraine ist. Ein Wagner-Konvoi passierte auf dem Weg Richtung Moskau die Stadt Woronesch. Russische Militärhubschrauber eröffneten das Feuer auf den Geleitzug, wie ein Reuters-Reporter beobachtete. Putin sprach im Fernsehen von Verrat und einem bewaffneten Aufstand. Prigoschin erklärte, er und seine Kämpfer würden sich nicht ergeben. In Moskau wurden Sicherheitsmassnahmen verstärkt.

Westliche Staaten wie die USA, Deutschland und Frankreich erklärten, sie beobachteten die Entwicklung aufmerksam. In Deutschland trat der Krisenstab der Bundesregierung zusammen. Aussenministerin Annalena Baerbock beriet sich nach Angaben des Auswärtigen Amtes mit ihren Amtskolleginnen und -kollegen der G7. Das britische Verteidigungsministerium stufte den Konflikt als grösste Bedrohung für den russischen Staat in jüngerer Zeit ein. Nun komme es auf die Reaktion der Sicherheitskräfte an, vor allem der Nationalgarde. Teile der russischen Sicherheitskräfte verhielten sich bisher wohl passiv. Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow schlug sich auf Putins Seite: Seine Truppen seien bereit, bei der Niederschlagung der Wagner-Kämpfer zu helfen.

Putin drohte Prigoschin mit einer harten Reaktion und forderte die Wagner-Söldner auf, sich an kriminellen Aktionen nicht zu beteiligen. "Wir brauchen die Einheit aller Kräfte", sagte der Präsident am Samstag in einer kurzfristig anberaumten TV-Ansprache. "Was wir sehen, ist ein Stich in den Rücken". Jeder, der die Waffen gegen die Armee erhebe, sei ein Verräter und werde bestraft. "All jene, die sich bewusst auf den Weg des Verrats begeben haben, die einen bewaffneten Aufstand vorbereitet haben, die den Weg der Erpressung und der terroristischen Methoden eingeschlagen haben, werden unvermeidlich bestraft werden", sagte Putin. "Sie werden sich sowohl vor dem Gesetz als auch vor unserem Volk verantworten." Das Militär habe die notwendigen Befehle.

Später telefonierte Putin unter anderem mit den Staatschefs der mit Russland verbündeten Länder Belarus und Kasachstan sowie der Türkei. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mahnte Putin türkischen Angaben zufolge zu vernünftigem Handeln.

«Der Präsident begeht einen grossen Fehler»

Prigoschin, der monatelang die Militärführung um Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow scharf kritisiert und ihr Unfähigkeit vorgeworfen hatte, wandte sich nun auch offen gegen Putin. Dieser hatte den Söldnerchef lange Zeit gefördert. Prigoschin sagte, er und seine Kämpfer würden sich auch auf Putins Befehl hin nicht ergeben. "Der Präsident begeht einen grossen Fehler, wenn er von Verrat spricht", sagte er in einer Audio-Botschaft auf dem Kurznachrichtendienst Telegram. Niemand werde sich dem Befehl des Präsidenten beugen. "Weil wir nicht wollen, dass das Land weiter mit Korruption, Betrug und Bürokratie lebt." Die Wagner-Söldner seien Patrioten und kämpften weiter.

Prigoschin hatte am Freitag auf Telegram Schoigu beschuldigt, die Wagner-Söldner aus der Luft angegriffen und dabei viele Kämpfer getötet zu haben. Nun werde er das "Böse" in der Militärführung stoppen. Diejenigen, die die Leben Zehntausender russischer Soldaten zerstört hätten, würden bestraft. "Wir sind 25.000 und wir werden herauskriegen, warum das Land ins Chaos gestürzt wurde", sagte der Wagner-Chef. Der grösste Teil des Militärs unterstütze ihn. "Das ist kein Militärputsch. Das ist ein Marsch für Gerechtigkeit."

Das russische Verteidigungsministerium wies Prigoschins Anschuldigungen zurück. Der Inlandsgeheimdienst FSB eröffnete nach Angaben vom Freitagabend ein Strafverfahren gegen Prigoschin wegen des Vorwurfs, er habe zum bewaffneten Aufstand aufgerufen.

Moskau verstärkt Sicherheitsmassnahmen

In der Nacht überquerten Wagner-Truppen nach eigenen Angaben aus den besetzten ukrainischen Gebieten die russische Grenze. Neben der Stadt Rostow kontrollierten Wagner-Kräfte einem Insider aus russischen Sicherheitskreisen zufolge am Samstag auch militärische Einrichtungen in der Stadt Woronesch 500 Kilometer südlich von Moskau. Ein Reuters-Reporter beobachtete, wie ein Konvoi der Wagner-Söldner auf der Richtung Moskau führenden Autobahn M4 an Woronesch vorbeizog und von russischen Militärhubschraubern angegriffen wurde. Zu sehen war in dem Konvoi auch ein Tieflader, der einen Panzer transportiert. Die von Süden nach Moskau führende Autobahn M4 wurde nach Angaben des Gouverneurs der Region Lipezk, die zwischen Woronesch und Moskau liegt, deshalb gesperrt.

Die russische Hauptstadt Moskau verstärkte die Sicherheitsmassnahmen. Es würden zusätzliche Strassenkontrollen eingeführt, sagte Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin. Zudem würden Anti-Terror-Massnahmen ergriffen. Russische Soldaten befestigen eine Stellung mit Maschinengewehren im Süden Moskaus, wie von der Zeitung "Wedomosti" veröffentlichte Fotos zeigen. Auf den Bildern ist auch zu sehen, wie sich schwerbewaffnete Polizisten an einem Ort an der Autobahn M4 versammeln.

Prigoschin - Gründe für den Ukraine-Krieg waren andere

Prigoschin bezeichnete die offiziellen Begründungen Russlands für den Krieg in der Ukraine als Lügengeschichte. Dabei kritisierte er Putin zunächst nur indirekt. "Der Krieg war notwendig, damit Schoigu Marschall werden und eine zweite Heldenmedaille bekommen kann", hatte Prigoschin gesagt. "Der Krieg war nicht notwendig, um die Ukraine zu demilitarisieren oder denazifizieren." Dass von der Ukraine eine Aggression ausgehe und diese gemeinsam mit der Nato Russland angreifen solle, sei nicht wahr.

All dies waren die Motive, die Putin zur Begründung des am 24. Februar vergangenen Jahres begonnenen Angriffs auf die Ukraine genannt hatte. Die russische Führung spricht von einer "militärischen Spezialoperation". Nach militärischen Fehlschlägen Russlands hatten die Wagner-Kämpfer eine zunehmend wichtige Rolle eingenommen. Sie kämpften an der Seite der regulären Streitkräfte, aber auch in Rivalität zu diesen. 

Selenskyj sieht Russland geschwächt

Der Machtkampf eskaliert während einer womöglich entscheidenden Phase des Kriegs in der Ukraine. Die ukrainische Armee hat vor Kurzem ihre lange erwartete Offensive zur Rückeroberung russisch besetzter Gebiete begonnen. Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht Prigoschins Aufstand gegen Moskau als Zeichen der Schwäche. "Russlands Schwäche ist offensichtlich. Schwäche in vollem Umfang", schrieb Selenskyj auf Telegram. "Und je länger Russland seine Truppen und Söldner in unserem Land hält, desto mehr Chaos, Schmerz und Probleme wird es später selbst haben."

Der ukrainische Vize-Außenminister Andrij Melnyk sprach von einer "einmaligen Chance für die ukrainische Armee, unsere Gegenoffensive mit neuem Elan voranzutreiben." Allerdings werde der neue Kampfgeist allein für die Befreiung der besetzten Gebiete nicht ausreichen, sagte der ehemalige Botschafter in Deutschland dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Deutschland müsse seine Militärhilfe deutlich ausweiten. 

(Reuters)