In den vergangenen Jahren mutierte der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko international zum Paria, nachdem er Proteste gegen Unregelmässigkeiten bei der Präsidentschaftswahl 2020 niederschlagen liess. Seit Samstag steht der 68-Jährige plötzlich als zentrale Figur in der innerrussischen Auseinandersetzung zwischen Wagner-Söldnern und Zentralmacht da: Russlands Präsident Wladimir Putin hatte angekündigt, dass Belarus den Anführer der Wagner-Kämpfer, Jewgeni Prigoschin, sowie alle Söldner aufnehmen würde, die sich nicht in die russische Armee eingliedern lassen wollen. Am Dienstag sagte Lukaschenko, Prigoschin sei eingetroffen.

"Lukaschenko ist innenpolitisch durch die Entwicklung am Wochenende auf jeden Fall gestärkt worden", sagt Astrid Sahm, Belarus-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), zu Reuters. "Und Putin schuldet ihm jetzt einen Gefallen." Lukaschenko könne nun darauf verweisen, dass er entscheidend mitgeholfen habe, einen Bürgerkrieg beim grossen Bruder Russland zu verhindern. Zumindest das komme auch in Belarus gut an, weil die Bevölkerung dort keinen Bürgerkrieg in Russland wolle. Die belarussische Oppositionsführerin im Exil, Swetlana Tichanowskaj, schrieb auf Twitter: "Ohne Putins Unterstützung wird das Lukaschenko-Regime nicht überleben können." Franak Viacorka, ein Berater der Opposition, sagt über Putin und Lukaschenko: "Sie hassen sich gegenseitig. Aber sie brauchen sich gegenseitig."

Sind Wagner-Söldner Hilfe - oder Gefahr für Lukaschenko?

Es stellt sich die Frage, ob der Nutzen der Aufnahme der Söldner in einer leerstehenden Kaserne von Dauer ist. Denn Lukaschenko geht das Risiko ein, eine unbekannte Zahl schwerbewaffneter Männer ins Land zu lassen, die Progoschin teilweise unter Schwerverbrechern in Gefängnissen hat rekrutieren lassen. "Wir haben sie gut im Auge", betonte der Präsident deshalb am Dienstag, als ob er sich der Gefahr bewusst sei. Aber man könne von der Wagner-Truppe durch deren Kriegserfahrung lernen, fügte er hinzu.

In der Abwägung dürfte Lukaschenko zu dem Schluss gekommen sein, dass ihm die Stationierung mehr nutze als schade, meint SWP-Expertin Sahm. Denn er habe zwar am russischen Beispiel gesehen, wie gefährlich eine Privatarmee und die Schwächung der staatlichen Macht sein könne. "Aber er hat durchaus Angst, dass die Opposition in Belarus zu einem bewaffneten Kampf übergehen könnte. Da könnte die Wagner-Truppe Schutz gewähren", glaubt sie mit Blick auf die innenpolitische Entwicklung und die unsichere Loyalität der Streitkräfte im Konfliktfall.

Sahm sieht einen weiteren Nutzen der Aufnahme der Wagner-Truppe in deren Afrika-Aktivitäten, die offenbar weiterlaufen. "Lukaschenko war in diesem Jahr selbst in Zimbabwe und den Vereinigten Arabischen Emiraten und sucht bewusst eine stärkere Rolle in Afrika." Seit Monaten kursieren Gerüchte, dass sich Prigoschin auch durch Rohstoffe aus Afrika finanzierte. Angesichts der westlichen Sanktionen könnte der belarussische Präsident Interesse an zusätzlichen Einnahmequellen bekommen.

Abhängigkeit von Russland

Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und international Studien (Zois), sieht in Lukaschenko vor allem einen Überlebenskünstler. Sie sei nicht sicher, wie gross der Verhandlungsanteil wirklich gewesen sei oder ob Putin ihm nicht alle Bedingungen diktiert habe, sagt sie. "Aber es ist bezeichnend, wie Lukaschenko sofort versucht, in der Aussenwahrnehmung und rhetorisch politischen Spielraum zurückzuholen", sagte sie zu Reuters. Laut belarussischer Staatsmedien brüstete er sich damit, Putin von einem brutalen Vorgehen abgehalten und ihm geraten zu haben, "über den Tellerrand hinauszuschauen".

In den vergangenen Jahren hat sich die Abhängigkeit von Belarus von Putin und Russland immer deutlicher gezeigt. Der einzige Umstand, warum das Land trotz der pan-russischen Träume Putins überhaupt noch ein unabhängiger Staat ist, sehen sowohl Sahm als auch Sasse darin, dass Putin sich einen Vorteil von einem Vasallenstaat verspricht. Sahm verweist auf die versuchte Umgehung westlicher Sanktionen sowie auf eine weitere Stimme in der UN-Vollversammlung. "Ein weiterer Schritt ist nicht nötig", deutet Sasse Putins Kalkül.

Sahm und Sasse verweisen übereinstimmend auf einen weiteren Aspekt der Beherbergung der Söldner in Belarus: Die Ukraine muss künftig wieder damit rechnen, aus dem Norden angegriffen zu werden. Lukaschenko bot Russland zwar jede denkbare logistische Unterstützung und liess zu, dass Belarus Aufmarschgebiet der russischen Invasionsarmee wurde. Aber seine eigene Armee nahm bewusst nicht an dem Angriff teil. Wenn sich nun russische Söldner an der ukrainischen Nordgrenze einquartieren, muss die ukrainische Armee möglicherweise dort wieder Kräfte einsetzen, die eigentlich bei der Offensive im Osten und Süden gebraucht werden. Sasse spricht von einer "Drohkulisse". Auch die westlichen Nachbarn Polen und Litauen zeigten sich besorgt.

Ein ähnliches Ziel verfolgen Putin und Lukaschenko nach Ansicht der Zois-Direktorin auch mit der Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus - "als verlängerter Arm Moskaus und bewusstes Signal an den Westen", meint sie. 

(Reuters)