Um die genaue Zahl an Krisen aufzulisten, welche die Nummer Zwei der Schweizer Banken in den letzten Jahren durchlebt hat, muss man sich etwas Zeit nehmen. Auch die Zahl der Kapitalerhöhungen ist nicht leicht überblickbar (vier seit 2008, mindestens eine weitere könnte folgen).

Wenn man feststellen will, dass ein Aktienkurs ein letztlich unumgänglicher Indikator für die Meinung über ein Unternehmen ist, fällt das Verdikt über die Credit Suisse erschütternd aus: Im Vergleich zu vor zehn Jahren notiert die Aktie heute um 72 Prozent tiefer. Rechnet man vom Höchststand des Aktienkurses im Mai 2007 ausgehend, sind 94 Prozent Börsenwert verloren gegangen. 

Das Interesse an der Credit Suisse an der Börse ist allerdings ungebrochen hoch. In der jeweils am Montag veröffentlichen Liste der im cash-Trading meistgehandelten Aktien ist Credit Suisse üblicherweise unter den Top Ten. Nicht selten auch Top Five. Dies dürfte nicht allein mit einer Neigung zusammenhängen, den CS-Titel in spekulativen Hebel-Geschäften einzusetzen.

Der Aktie, die in den vergangenen Wochen zeitweise weniger als 5 Franken wert gewesen ist, werden durchaus auch Chancen eingeräumt. Aber welche sind dies? Wo liegen die Pluspunkte der häufig gescholtenen Bank, die in der globalen Finanzindustrie nach wie vor Gewicht hat?

Singapur, nicht Zürich

Eine der grossen Stärken der CS sei ihre Verankerung in den Schwellenländern, sagt Vontobel-Bankenanalyst Andreas Venditti: "Die Bank profitiert stark vom Image der Schweiz." Die Reputationskrisen, welche die Bank in den vergangenen Jahren erlebt habe, hätten sich weniger stark auf die Bank ausgewirkt, je weiter man geographisch von der Schweiz weggehe. 

Ein Teil der Schweizer Vermögensverwalter hat das Geschäft in Schwellenländern in den vergangenen 20 Jahren ausgebaut. Schwerreiche Familien in Singapur, anderen asiatischen Ländern, auf der arabischen Halbinsel oder auch in Lateinamerika lassen zumindest einen Teil ihrer Vermögen bereitwillig von einer Schweizer Bank betreuen. Dies gilt nicht exklusiv für die CS, aber das "Suisse" im Namen zahlt sich für sie aus. 

Schweiz-Geschäft der Credit Suisse hält Stürmen stand

Auch das Schweizer Geschäft selbst sei eine Stärke der Credit Suisse, sagt Venditti gegenüber cash.ch. "Es leidet unter den Problemen, die durch andere Einheiten verursacht werden, also den schlechten Leistungen der Investmentbank oder den Rechtsstreitigkeiten in der Vermögensverwaltung." Dass die Schweizer Bank der CS dennoch solide Resultate ausweise, sei eine Leistung.

Das damalige Management blies 2017 einen Börsengang des Schweizer Geschäfts ab. Von einem neuen Versuch, die zurzeit "Swiss Bank" genannte Einheit allenfalls zusammen mit weiteren Geschäftsbereichen separat an die Börse bringen, ist derzeit nichts bekannt. 2015, nachdem das damalige Vorhaben eines CS-Schweiz-Börsengangs angekündigt wurde, hatten teils grosse Erwartungen an die Freisetzung von Aktionärswert durch einen solchen Schritt bestanden.  

Im Aufbau der Bank - Vermögensverwaltung, Investmentbank, Swiss Bank und Asset Management - liegt eine Möglichkeit, die CS mittelfristig zu stabilisieren. Nachdem die Investmentbank Quartal für Quartal für Verluste und Abschreibungen gesorgt hat, und nachdem das Verwaltungsratspräsidium Mitte Januar an Axel Lehmann und der CEO-Posten Ende Juli an Ulrich Körner gegangen ist, brütet die Bank erneut über ihre Zukunft. Nach den umstrittenen Konzernchefs Brady Dougan (2007 bis 2015), Tidjane Thiam (2015 bis 2020) und Thomas Gottstein (2020 bis 2022) unter den fast noch heftiger kritisierten Verwaltungsratspräsidenten Urs Rohner (2011 bis 2021) und Antonio Horta-Osorio (2021/22) ist das neue CS-Führungsduo bisher von den Märkten positiv beurteilt worden. 

«Dilemma» der Investmentbank muss aufgelöst werden

Die fortgesetzt hohen Verluste der Investmentbank haben allerdings auch Analysten in Sorge versetzt, welche die Aktie eisern zum Kauf empfehlen. Viele davon gibt es nicht: Bloomberg zählt fünfzehn "Hold"-Empfehlungen, neun "Verkaufen" (immerhin ein Drittel der Ratings), und vier "Kaufen". Andrew Coombs von der Citigroup, der zu den Analysten mit "Buy"-Ratings gehört, schrieb im Juni: "Was ein seltenes Ereignis war, ist zur Norm geworden." Er bezog sich auf die damalige Gewinnwarnung.

Zur Investmentbank braucht es eine Lösung - so, wie auch die zuletzt schwache Vermögensverwaltung wieder Tritt fassen muss. Beim Umbau der Investmentbank stecke die Credit Suisse in einem Dilemma, sagt Venditti, der für die Aktie ein "Hold"-Rating ausstehen hat: "Je durchgreifender die Massnahmen sein werden, desto teurer wird es." Die Restrukturierung könnte schnell Kosten in Höhe hunderter Millionen Franken verursachen. Der Verwaltungsrat setze sich wohl auch mit der Frage auseinander, wie viel Kapital der Markt der Bank zu geben bereit sei: "Potenziell massive Kosten zur Abwicklung und Restrukturierung gewisser Einheiten machen einen Entscheid des Verwaltungsrats über die künftige Zusammensetzung der Bank so schwierig."

Voraussetzungen für einen Rebound der Credit-Suisse-Aktie

Braucht die Credit Suisse noch einmal frisches Kapital? Citi-Analyst Coombs bezeichnete es in einem Update im Sommer als "Silberstreifen am Horizont", dass die Bank eine weitere anstehende Kapitalerhöhung dementierte. Zudem verwies er drauf, dass die Kapitalausstattung stark ausfalle und dass das Ziel, gemäss den Regulationsvorgaben Basel-III erforderlichen 14 Prozent hartes Kernkapital bis 2024 zu erreichen, erreichbar sei. Vom Tisch sind Kapitalmassnahmen aber keinesfalls. Coombs fasste die Voraussetzungen für einen Rebound der Aktie so zusammen: "Erstens, ein Ende unerwarteter Risiko-Ereignisse, zweitens, eine Rückkehr zu Umsatzwachstum und einem positiven Ertragsdynamik, und drittens, ein Bekenntnis zu höherer Kapitalrendite." 

 

 

Letzten Endes hängt das künftige Schicksal der Credit Suisse und ihrer Aktie von Zeit und Umständen ab. Eine weitere Kapitalerhöhung würde das Anlegervertrauen noch einmal zerrütten. Interpretiert würde dieses an der Börse aber auch im Zusammenhang mit den Umständen. Eine Entspannung an den Finanzmärkten, eine Beruhigung der momentan um sich greifenden Zinsangst, eine tiefere Inflation und nicht zuletzt ein Ende des Krieges in der Ukraine würden für die CS potenziell grosse Chancen eröffnen. Unter positiven Begleiterscheinungen würde die tiefe Bewertung der Aktie nicht mehr als Ausdruck einer weitreichenden Unternehmenskrise und Hindernis für die weitere Entwicklung, sondern als ein Anreiz für den Kauf des Titels angesehen.

Wegen des Damoklesschwerts einer weiteren, potenziell teuren Kapitalerhöhung kann man die CS-Aktie im Moment noch nicht guten Gewissens zum Kauf empfehlen. Die hohe Unsicherheit an den Märkten ist für die Bank wie für viele andere Unternehmen eine Belastung. Doch zu sagen, die zweitgrösste Schweizer Bank stehe ohne Stärken und Chancen da, ist auch unter den heutigen Umständen falsch.