Nestlé-Verwaltungsratspräsident Paul Bulcke steht vor einem Scherbenhaufen. Er, lange Zeit Lichtfigur und Königsmacher bei Nestlé wie zuvor Vorgänger Peter Brabeck, ist verantwortlich für zwei CEO-Fehlbesetzungen. Mark Schneider, engagiert von Bulcke im Jahr 2017 und nach viel Trial-and-Error und Start-Up-Hektik: Entlassen im August 2024. Nestlé-Veteran Laurent Freixe: Eingesetzt von Bulcke im August 2024 und entlassen ein Jahr später - wegen einer nicht deklarierten und zu spät untersuchten Liebesbeziehung zu einer Untergebenen.
Allein die letzte Personalie ist ein Schock für ein Unternehmen, das viele Jahrzehnte als ein Hort der Stabilität sowohl für Investoren, Stakeholder und Belegschaft war. Sozusagen ein sicherer Hafen wie der Schweizer Franken. Die personellen Fehlgriffe auf C-Level führten zu einem beispiellosen Rückgang des Aktienkurses und zeugen von wenig strategischer Weitsicht des Verwaltungsrates.
Ob Bulcke nun schon Anfang Oktober zurücktritt, wie am Dienstagabend mitgeteilt, und nicht wie ursprünglich geplant im März 2026, spielt absolut keine Rolle. Bulcke wurde am Markt nicht mehr als relevant für die Zukunft von Nestlé wahrgenommen.
Relevanter ist vielmehr das: Der Verwaltungsrat will nichts an der strategischen Ausrichtung ändern, wie beim Abgang von Freixe kommuniziert wurde. Damit wird er Schiffbruch erleiden. Ein Blick auf den Aktienkurs zeigt, dass die rückwärtsgerichtete Strategie des Duos Freixe/Bulcke nicht verfangen hat.
Das Unternehmen muss mit dem neuen CEO Philipp Navratil nun dringend die Weichen für eine Umstrukturierung stellen, die mehrere Jahre dauern wird. Dazu gehören Massnahmen, die wehtun. Eine Überprüfung des Personalbestandes mit dem Ziel von Kostensenkungen ist als erster Schritt unausweichlich.
Dabei darf es nicht bleiben. Navratil muss das ganze Portfolio überdenken. Der Nahrungsmittelmarkt ist weltweit in Bewegung, Grösse allein zählt bei den Investoren nicht mehr. Davon zeugen die zahlreichen M&A-Aktivitäten im Sektor: Kraft Heinz in den USA plant eine Aufteilung in zwei Unternehmen. Der US-Getränkekonzern Keurig Dr Pepper übernimmt den Kaffeekonzern JDE Peet’s, um dann in zwei eigenständigen Firmen weiterzubestehen. Unilever bringt im November die Glacé-Sparte separat an die Börse.
Und bei Nestlé? Gerade die skandalträchtige Wassersparte von Nestlé steht hier als Symbol für das Festhalten an alten Zöpfen. Statt das Geschäft loszuschlagen, sucht der Konzern schon länger einen Partner für ein Joint Venture - wie so oft in der Vergangenheit. Auf den Prüfstand müssen nun auch Geschäfte mit Vitaminen oder Tiefkühlkost.
Navratil muss sich bei einigen Produkten zudem fragen, ob sie noch zum Konzern und zu den veränderten Konsumgewohnheiten passen. Das gilt vor allem für Günstig-Angebote, von denen es im Konzern zu viele gibt. Viele Investoren fordern die Fokussierung auf das Hochpreis-Segment, um das Wachstum anzukurbeln.
Der Verwaltungsrat muss auch über eine Veräusserung oder Reduktion der 20-Prozent-Beteiligung am Kosmetikkonzern L’Oréal nachdenken, die einen Wert von 40 Milliarden Euro hat. Mit einem Teilverkauf dieses Tafelsilbers hatte Nestlé bereits vor vier Jahren ein Aktienrückkaufprogramm lanciert. Investoren würden es hingegen auch begrüssen, wenn mit einem Erlös aus der L’Oréal-Beteiligung die gestiegene Verschuldung von Nestlé verringert wird.
CEO Navratil hat wahrscheinlich gute Voraussetzungen, die Zukunft von Nestlé erfolgreich zu gestalten. Ein Analyst hat ihn als «aussergewöhnlich direkt, ehrgeizig und konsequent ergebnisorientiert» umschrieben.
Der Nestlé-Verwaltungsrat darf ihm keine Knüppel in die Beine werfen. Sonst droht der erneute Einstieg eines aktivistischen Investors wie Daniel Loeb 2017, der Nestlé aufteilen wollte. Für Loeb war Nestlé schon damals zu selbstgefällig, zu bürokratisch und zu langsam beim Abtrennen von schwachen Geschäftseinheiten.
Es ist, als sei die Zeit am Genfersee stehen geblieben.