Ein im Eilverfahren verabschiedetes Gesetz, das seinem Generalstaatsanwalt mehr Kontrolle über die Ermittlungsbehörden gibt, gefährdet die für den angestrebten EU-Beitritt zentralen Reformen. Die Gesetzesänderungen haben zu scharfer Kritik von EU-Spitzenvertretern geführt und in der Ukraine die grössten Proteste seit Beginn des russischen Angriffskrieges ausgelöst.
Welche Behörden sind betroffen?
Im Zentrum des Konflikts stehen das Nationale Anti-Korruptionsbüro (Nabu) und die Spezialisierte Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft (Sapo). Beide Institutionen wurden nach der pro-westlichen Revolution von 2014 gegründet. Ihre Aufgabe ist es, unabhängig Korruption auf hoher Ebene zu bekämpfen – eine Kernforderung für den Erhalt von westlicher Finanzhilfe in Milliardenhöhe und für den Beitritt zur EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten. Die Behörden hatten ihre Arbeit während der russischen Invasion intensiviert und Anklagen gegen Abgeordnete, hohe Regierungsbeamte und einen ehemaligen stellvertretenden Leiter von Selenskyjs Präsidialverwaltung erhoben. Im vergangenen Monat beschuldigten sie einen stellvertretenden Ministerpräsidenten, ein Schmiergeld in Höhe von 345.000 Dollar angenommen zu haben.
Warum wurde das neue Gesetz beschlossen?
Selenskyj begründete das Vorgehen am Dienstag damit, die Behörden müssten von russischem Einfluss «gesäubert» und ihre Arbeit gestärkt und beschleunigt werden. Tags zuvor hatte der ukrainische Inlandsgeheimdienst zwei Nabu-Beamte wegen mutmasslicher Verbindungen zu Russland festgenommen und Durchsuchungen bei Mitarbeitern der Behörde vorgenommen. Kritiker bezeichneten dies als überzogen. Das neue Gesetz erlaubt es dem Generalstaatsanwalt nun, den Behörden Fälle zu entziehen und Staatsanwälte neu zuzuweisen. Kritiker werfen der Regierung vor, dies sei eine politisch motivierte Reaktion auf die Ermittlungserfolge der Behörden.
Wie sehen die Reaktionen aus?
Die EU-Erweiterungskommissarin zeigte sich «ernsthaft besorgt», Bundesaussenminister Johann Wadephul sieht den Weg der Ukraine in die EU als «belastet» an. In der Ukraine versammelten sich Tausende Demonstranten in Kiew, unweit des Maidan-Platzes, dem Ort der Aufstände von 2014. Der Kampf gegen Korruption und die Hinwendung zum Westen gelten seit der russischen Invasion im Februar 2022 als entscheidend, um das Erbe der russischen Vorherrschaft abzuschütteln. Auf einem Plakat bei dem Protest stand: «Mein Bruder ist nicht für eine solche Zukunft gestorben.»
Wie geht es weiter?
Als Reaktion auf den Druck kündigte Selenskyj am Mittwoch an, innerhalb von zwei Wochen einen Plan zur besseren Korruptionsbekämpfung ausarbeiten zu lassen. Nabu und Sapo forderten ihrerseits jedoch eine gesetzliche Wiederherstellung ihrer Unabhängigkeit. Unterdessen kündigten Abgeordnete an, die Gesetzesänderungen anzufechten, während in sozialen Medien zu weiteren Protesten aufgerufen wurde.
(Reuters)