Wenn Sie dem Schweizer Vorsorgesystem eine Schulnote geben müssten: Welche wäre das?
Serge Gaillard: Wenn 6 die beste Note ist, dann gebe ich dem Schweizer Vorsorgesystem die Note 5 – also gut.
Was zeichnet die Schweizer Altersvorsorge aus?
Wir haben in der Schweiz eine bemerkenswert stabile Finanzierung des Vorsorgesystems – zumindest gemessen an den Katastrophenszenarien, die manchmal heraufbeschworen werden.
Was bedeutet das für die Älteren?
Die weitaus meisten Rentnerinnen und Rentner in der Schweiz können ein würdiges Leben führen ohne Altersarmut. Die verfügbaren Einkommen pro Rentner liegen nicht allzu weit unter den Einkommen im Erwerbsleben.
Für die heutigen Rentner stimmt das sicherlich. Müssen sich die kommenden Generationen Sorgen machen, dass das Geld für ihre Altersrente nicht mehr reicht?
Nein, nach meiner Einschätzung nicht. Allerdings müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein, damit die Altersvorsorge in der Schweiz finanzierbar bleibt. Wir brauchen Vollbeschäftigung, also dass möglichst viele Menschen im erwerbsfähigen Alter auch arbeiten und Beiträge für die Vorsorge zahlen – damit wir uns im Schnitt 20 bis 23 Jahre Rentnerdasein leisten können.
Was wäre die zweite Voraussetzung?
Wichtig ist die Bereitschaft, bei Bedarf die Beitragssätze oder das Rentenalter anzupassen. In der Schweiz hat die Bevölkerung die Altersvorsorge nie in ein finanzielles Ungleichgewicht fahren lassen, sondern immer rechtzeitig gehandelt, wenn es nötig war – zum Beispiel über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Es gibt daher aus meiner Sicht keine Gefahr für die Finanzierung der Altersvorsorge.
Am 1. Januar 2024 tritt die Reform AHV 21 in Kraft. Was genau wird sich ändern und wer ist besonders betroffen?
Die Reform AHV 21 vereinheitlicht das Referenzalter für den Rentenbezug für Frauen und Männer bei 65 Jahren und sichert die Finanzierung der Altersvorsorge mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozent. Ab Jahrgang 1961 erhöht sich das Rentenalter für Frauen jährlich um drei Monate. Gehören sie zur Übergangsgeneration, können sie einkommensabhängige Rentenzuschläge erhalten, sofern sie bis zum Referenzalter erwerbstätig sind. Wichtig scheint mir, dass mit der Reform Personen mit Beitragslücken oder einer tiefen Rente diese durch eine verlängerte Erwerbstätigkeit verbessern können.
Wie beurteilen Sie die Reform – mit Blick auf die Zukunft der Altersvorsorge?
Das finanzielle Gleichgewicht dürfte mit dieser Reform bis rund 2030 erhalten werden. Die Möglichkeit, seine Rente durch eine längere Erwerbstätigkeit zu verbessern, erachte ich auch als Fortschritt. Jetzt müssen die Arbeitgeber mitspielen. Es sollte normal werden, bis zum Referenzalter zu arbeiten.
Junge Leute sind oft verunsichert wegen ihrer künftigen Renten und haben wenig Vertrauen in AHV und Pensionskassen. Wie schätzen Sie dies ein?
Ich beobachte beim Thema Rentenfinanzierung eine gewisse Panikmache. Als ich Anfang 20 war, wurde der finanzielle Kollaps der Altersvorsorge für Mitte der 1990er-Jahre vorhergesagt. Niemand hatte das Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum vorhergesagt.
Eine weitere Erhöhung der Beiträge ist aber für die Zukunft absehbar …
Stimmt. Angesichts der weiter steigenden Lebenserwartung und weil geburtenstarke Jahrgänge in Rente gehen, wird es gegen Ende des Jahrzehnts wieder eine Reform brauchen. Die Fragestellung dürfte einfach sein: Wollen wir mehr bezahlen oder wollen wir länger arbeiten?
Wir wollen unseren Lebensstandard halten, auch in der Rente. Sind die Erwartungen der Menschen an die Altersvorsorge zu hoch gegriffen?
Die Altersvorsorge ist der Kern des Sozialstaates, zusammen mit der Arbeitslosenversicherung, Kranken- und Unfallversicherung. Irgendwann scheidet man aus dem Erwerbsleben aus und ist auf ein Renteneinkommen angewiesen. Insofern ist der Anspruch, in Würde weiterleben zu können, auch wenn man kein Einkommen mehr erzielt, berechtigt. Umgekehrt muss man auch wissen, dass die Altersvorsorge nicht gratis zu haben ist.
Was darf das kosten?
Wenn wir den Anspruch aufrechterhalten, im Alter rund 60 Prozent des Einkommens zu erhalten und in 45 Jahren für rund 23 Jahre vorsorgen wollen, müssen wir dafür fast einen Viertel des Einkommens aufwenden, unabhängig davon, ob wir in einem Kapitaldeckungsverfahren oder einem Umlageverfahren vorsorgen.
Wo sehen Sie derzeit die grössten Herausforderungen bei der Altersvorsorge?
Neben der Finanzierung sind es die ungenügende Absicherung der tiefen Einkommen und Teilzeitbeschäftigten in der zweiten Säule und der Umgang der Pensionskassen mit der Teuerung.
Was sind mögliche Auswirkungen der Teuerung?
Wir müssen für die nächsten Jahre mit einer Teuerung von 1 bis 2 Prozent rechnen. Das ist keine gute Nachricht für Altrentner. Bei den Pensionskassen gibt es keinen Zwang, Bestandsrenten an die Teuerung anzupassen. Das heisst, es droht eine langsame Erosion der Kaufkraft bei Rentenbezügern und -bezügerinnen. Diese ist vor allem bei tiefen Renten und für die Generation ein Problem, die mit tiefen Umwandlungssätzen und ohne eine kompensierende Aufwertung der Altersguthaben in Rente gegangen ist.
Bedeutet der Zinsanstieg nicht auch tendenziell höhere Anlagenerträge, die in der zweiten Säule den Versicherten zugutekommen könnten?
Nach einer Übergangsperiode ja. Das ist die gute Nachricht. Wenn Pensionskassen in einigen Jahren wieder einen hohen Deckungsgrad ausweisen, werden sie sich Gedanken machen, wofür sie die Überschüsse verwenden: für eine bessere Verzinsung der Altersgutschriften, höhere Umwandlungssätze oder einen Teuerungsausgleich für alle oder einen Teil der Rentnerinnen und Rentner.
Wie sähe eine gerechte Lösung aus?
Pensionskassen sind Solidargemeinschaften: Sie müssen ausgleichen zwischen Erwerbstätigen und Rentnern, also Lösungen finden, die für alle Versicherten stimmen. In Kassen mit tiefen Umwandlungssätzen ist es möglich, dass einige Generationen mit zu tiefen Renten in Pension gegangen sind. Diese sollten meines Erachtens beim Teuerungsausgleich bevorzugt behandelt werden. Und für die Erwerbstätigen ist es wichtig, dass Altersguthaben angemessen verzinst werden, damit die Altersguthaben mit der allgemeinen Lohnentwicklung Schritt halten.
Wo sehen Sie Lücken im Vorsorgesystem?
Personen mit tiefen Einkommen oder Teilzeitbeschäftigte sind in der zweiten Säule wenig abgesichert.
An welchen Stellschrauben wird gedreht, um die Situation zu verbessern?
Die AHV hat man aus meiner Sicht bereits relativ gut an neue Entwicklungen wie mehr Teilzeit, mehr Unterbrüche oder die steigende Zahl an Scheidungen angepasst. Schon mit der Einführung des Ehegattensplittings wurden Fortschritte erzielt, um die Altersvorsorge trotz Erwerbsunterbrüchen, Teilzeit und tiefen Einkommen zu verbessern. Auch die Erziehungsgutschriften waren ein Schritt in die richtige Richtung. Und das Scheidungsrecht sorgt dafür, dass bei einer Trennung die Altersguthaben bei den Pensionskassen gerecht aufgeteilt werden.
Anpassungen sind allerdings noch in der zweiten Säule erforderlich …
Bei der zweiten Säule haben wir das Problem, dass Teilzeitbeschäftigte zu schlecht versichert sind. Da bringt die Senkung des Koordinationsabzugs eine Besserung.
Was soll das bewirken?
Ein niedrigerer Koordinationsabzug erhöht den Anteil des Lohnes, der versichert ist. Damit sind Teilzeitversicherte und Personen mit tiefen Löhnen besser abgesichert.
Viele Menschen setzen heute auf Kapitalbezug statt Rente in der zweiten Säule. Lässt sich das als Misstrauen werten? Und geraten Pensionskassen in eine Schieflage deswegen?
Einige Pensionskassen sind zu weit gegangen mit der Senkung des Umwandlungssatzes. Als Reaktion legen manche Menschen ihr Geld lieber individuell an. Die Risiken sind allerdings hoch. Sicherer ist es, sich zumindest den Teil seiner Pensionskassengelder in Form einer Rente auszahlen zu lassen, den man für das tägliche Leben braucht.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Handelszeitung unter dem Titel: "«Es gibt keine Gefahr für die Finanzierung der Altersvorsorge»"
2 Kommentare
Es erstaunt mich, dass die Verlagerung von den Versicherten im Milliardenbereich zu den Rentnern hier mit keinem Wort erwähnt wir. Der Markt gab die letzten 15 Jahre im Schnitt 3% ab, viele PK's verzinsen die Guthaben mit 1%. Die Differenz von 2% Jährlich macht pro Arbeitnehmer vielfach über 100'000 CHF aus.
Dass zur Zeit die aktiven Beitragszahler auf Kosten der Rentner etwas zu kurz kommen, ist längst erkannt, und müsste eben mit einem tieferen Umwandlungssatz (wenigstens) teilweise behoben werden. Ob der Stimmbürger dem aber zustimmen wird, das steht in den Sternen. Leider macht die Linke da gerne mit Unwahrheiten mächtig Stimmung dagegen. Ich bin selbst im Stiftungsrat einer kleinen, betriebseigenen PK. Von 2013 bis und mit 2022 hat unsere PK das ihr anvertraute angesparte Vermögen der Beitragszahler mit durchschnittlich fast 4% (vier Prozent) verzinst. Ja, es gibt PKs, die nur zum Mindestzinssatz verzinsen. Meines Wissens nach geben die allermeisten PKs jedoch mehr als das gesetzliche Minimum an ihre aktiven Mitglieder weiter.
Bsp. die ASGA (PK meines Bruders): Die reichte von 2012 bis und mit 2022 (11 Jahre) im Durchschnitt 2.52% an ihre Mitglieder weiter, was weit entfernt von 1% ist. Es ist wichtig, dass wenn es um das BVG geht, bei den Fakten zu bleiben. Es bringt absolut nichts, die Versicherten mit Unwahrheiten zu verunsichern, genau wie es Herr Gaillard auch erwähnt hat.