Urs Rüegsegger (geboren 1962) wurde 2008 CEO der SIX Group, zu der auch die Schweizer Börse gehört. Eigentümer der SIX sind mehr als 100 nationale und internationale Finanzinstitute. Eine Konstellation, die grosse Veränderungen schwierig macht, wie Rüegsegger im Interview einräumt. 

Vor seiner Zeit bei der SIX war der studierte Betriebswirtschaftler während sieben Jahren CEO der St.Galler Kantonalbank. Rüegsegger Nachfolger bei der SIX wird der Niederländer Jos Dijsselhof, während Rüegsegger in Zukunft verschiedene Projekte verfolgen möchte: Verwaltungsrats- und Beratermandate sowie sein Engagement für das Theater St. Gallen.

cash: Herr Rüegsegger, Sie sind neben Ihrem CEO-Amt bei der SIX seit vielen Jahren Verwaltungsratspräsident der Genossenschaft Konzert und Theater St. Gallen. Ist der Abgang von der SIX-Bühne so, wie Sie Ihn sich vorgestellt haben?

Urs Rüegsegger: Ich hatte immer zwei Zielsetzungen für meinen Abgang: gesund und freiwillig. Das konnte ich nach zehn Jahren realisieren. Er war also vollständig meinen Erwartungen entsprechend.

Waren Sie froh, das gleich nach Ihnen auch noch Jan Schoch als CEO von Leonteq zurücktrat und Sie damit nicht mehr die meist diskutierte Personalie des Finanzplatzes Zürich waren?

Meine Entscheidung hat für mich persönlich gestimmt und es ist völlig irrelevant, was links und rechts passiert. Mit der Übergangslösung, die wir gewählt haben, stimmt es auch für das Unternehmen.

Ihr Nachfolger, Jos Dijsselhof, wird per Anfang 2018 übernehmen. Wie lange sind Sie noch aktiv für die SIX?

Die Regelung war immer: Ich bleibe solange, bis mein Nachfolger gefunden worden ist plus eine Übergangsphase. Jos Dijsselhof wurde im November nominiert und war sofort verfügbar. Somit bin ich noch bis Ende Jahr in der Verantwortung und danach noch zur Unterstützung im Hintergrund tätig.

Was waren die konkreten Gründe für Ihren Rücktritt?

Für mich war immer klar: Ein CEO sollte nach acht bis zehn Jahren Platz machen, weil er sonst das Feld zu stark dominiert. Nun war ich zehn Jahre lang hier, und das ist ein guter Zeitpunkt für einen Wechsel.

Gibt es bei einem Rücktritt ein richtiges und ein falsches Vorgehen?

Das muss jeder für sich und zusammen mit dem entsprechenden Unternehmen entscheiden. Ich bin der Meinung, dass die Kontinuität auf Seiten des Unternehmens Priorität hat. Vorausgesetzt, man kann freiwillig und gesund abtreten.

Sie waren vor der SIX viele Jahre bei der St.Galler Kantonalbank. Liegt es in Ihrem Naturell, dass Sie kein Sesselhüpfer sind?

SIX ist ein komplexes Unternehmen, dementsprechend war die Einarbeitung anspruchsvoll. Es dauerte zwei bis drei Jahre, bis ich alle Zusammenhänge voll verstanden hatte.  Hinzu erachte ich es wichtig, dass ein Führungsgremium auch mit den Ergebnissen der eigenen Entscheidungen leben können muss. Bei der SGKB war ich auch rund sieben Jahre lang CEO, also eine ähnlich lange Zeit.

Sie haben sich in Interviews nach Ihrer Rücktrittsankündigung selbstkritisch geäussert. Was würden Sie rückblickend bei der SIX anders machen?

Als ich zur SIX kam, waren für mich drei Punkte ausschlaggebend: Erstens eine Anstellung in der Finanzbranche, aber nicht erneut bei einer Bank. Zweitens wollte ich den Triple-Merger vollziehen (die Dreifachfusion von Schweizer Börse, Telekurs und SIS zur heutigen SIX; Anm. d. Red.). Drittens war und bin ich der Überzeugung, dass es Optimierungspotenzial gibt, wenn man Banken und Infrastruktur gemeinsam und nicht getrennt betrachtet. In diesem Bereich haben wir zwar einiges erreicht, aber nicht den grossen Wurf. Auch wenn das verschiedene Gründe hat, betrachte ich das rückblickend selbstkritisch.

Liegt es am weit verzweigten Aktionariat der SIX, dass grosse Würfe gar nicht möglich sind?

Die Struktur des Aktionariats hätte eigentlich den Prozess unterstützen sollen. Ausschlaggebend waren vor allem die Komplexität der Sache und die geringe Bereitschaft, grössere Investitionen zu tätigen, bevor Geld zurückfliesst. Auch haben sich die Banken in den letzten zehn Jahren bezogen auf ihre Geschäftsmodelle mehr auseinanderbewegt als umgekehrt. Gerade in der jüngeren Vergangenheit konnten wir aber auch einige Erfolge verbuchen.

Woran denken Sie konkret?

Zum Beispiel mehrere Services, mit denen wir den Banken helfen, die neuen regulatorischen Vorschriften zu erfüllen. Hier schliessen wir viele Verträge ab. Oder an einen Service, der es vereinfacht, die Steuern in der Vermögensverwaltung zurückzufordern. Zuletzt haben wir auch ein Transaktionsregister für Derivategeschäfte lanciert.

Kritisiert wurde auch der harzige Start des mobilen Bezahlsystems Twint. Wird sich die App durchsetzen?

Mittlerweile kann man an 35'000 Bezahlstationen mit Twint bezahlen und im Onlinebereich ist die Lösung absolut top. Ich bin überzeugt: Nach einer Anlaufzeit wird sich Twint etablieren. Bezahlgewohnheiten brauchen immer eine gewisse Zeit, bis sie sich durchsetzen. Das konnte man auch bei der Einführung der Debit-Karten beobachten.

Während Ihrer Amtszeit kam es zu mehreren Rochaden in der SIX-Geschäftsleitung. Sind Personalentscheidungen das Schwierigste für einen CEO?

Personalentscheide sind anspruchsvoll, umso mehr, je grösser die Organisation und je höher die Hierarchiestufe ist. Aber Personalwechsel bieten immer auch neue Chancen.

Mit welchen anderen Herausforderungen muss ein CEO in Ihrer Branche klarkommen?

Zuerst einmal die ganzen regulatorischen Veränderungen, die noch nicht abgeschlossen sind. Dann die Digitalisierung inklusive Automatisierung bis hin zu neuen Dienstleistungen dank digitaler Technologien. Schliesslich gehen im ganzen Finanzsektor die Margen zurück. Diesem Druck muss sich auch die Infrastrukturbetreiberin SIX stellen.

In Ihre Zeit als SIX-CEO fiel auch die Aufarbeitung der Finanzkrise. Wäre eine solche heute vermeidbar?

Auf der globalen Agenda standen nach Ausbruch der Finanzkrise vier Themen: mehr Kapital im System, Notfallpläne, ausserbörslicher Derivatehandel und grenzüberschreitende Regulierungen. Heute haben wir in der Schweiz mehr Eigenkapital im System. Auch haben wir im Vergleich zu anderen Ländern kein Kreditproblem. Bei den anderen Punkten setzte ich aber Fragezeichen. Zum Beispiel bei der grenzüberschreitenden Regulierung ist faktisch das Gegenteil passiert. Auch ist heute die Konzentration im Finanzsektor grösser als vor der Krise. Das ist der Stabilität nicht unbedingt förderlich.

Das tönt nicht sehr zuversichtlich.

Gemessen an der Ernsthaftigkeit der damaligen Krise kann man aufgrund der erzielten Fortschritte nicht in Begeisterung ausbrechen. Die grossen Würfe sind nicht gelungen.

Sie sind nun Mitte fünfzig. Wagen Sie noch einmal einen beruflichen Neuanfang?

Ein Grund, weshalb ich jetzt zurücktrete, ist, dass ich noch einen beruflichen Abschnitt vor mir habe. Ich strebe aber keine exekutive Verantwortung mehr an. Ich möchte stattdessen verschiedene Standbeine aufbauen: Verwaltungsratsmandate, Beratung, eine Zusammenarbeit mit der Uni St. Gallen und natürlich weiterhin beim Theater – alles Beschäftigungen, die mich faszinieren.

Werden Sie überhaupt viel mehr Freizeit haben als heute?

Das weiss ich schlicht noch nicht. Mir wurde schon mehrfach gesagt: Schlussendlich arbeitet man gleich viel wie früher, aber man hat mehr Ferien. Ich möchte sicherlich mehr Spielraum haben und freier entscheiden können, wann ich wo meine Zeit einsetze. Daneben habe ich auch viele private Projekte geplant, weshalb auch meine Frau mit dem Rücktrittsentscheid einverstanden sein musste.

Was ist das Wichtigste, das Ihnen ein Vorgesetzter mit auf den Weg gegeben hat?

Ganz zu Beginn meiner Karriere hat mir mein damaliger Chef gesagt: Wenn Sie fünf Aufgaben bekommen, können Sie zwei vergessen. Die Schwierigkeit besteht aber darin, die richtigen zwei Aufgaben wegzulassen. Daraus leitete ich ab, dass die konsequente Priorisierung etwas vom Wichtigsten ist für Führungspersonen.

Gibt es Management-Grundsätze, die Sie jungen Führungspersonen mit ans Herz legen?

Mir hat geholfen, immer wieder die Distanz zu suchen zu den Themen, in die man involviert ist. So wird die Perspektive nie zu eng und man kann zu starke emotionale Nähe vermeiden. Ebenfalls wichtig ist, eine langfristige Strategie zu verfolgen.

Wo und wie verbringen Sie die Festtage und den Jahreswechsel?

Diese Zeit verbringe ich traditionell mit meiner Familie beim Skifahren in Österreich.

Bisher erschienen in der cash-Interviewserie "Rücktritte 2017":