Seit Donnerstag gilt ein neuer Basiszoll von 15 Prozent für Importe aus der EU, der Waren «Made in Germany» dort erheblich verteuern dürfte. Erste Bremsspuren sind schon sichtbar: Im Juni fielen die deutschen US-Ausfuhren den dritten Monat in Folge und erreichten das niedrigste Niveau seit Februar 2022. «Wichtiger ist die wahrscheinliche langfristige Schwäche des US-Geschäfts», warnt Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. «So dürften die höheren Zölle die preisbereinigten Exporte in die USA in den kommenden zwei Jahren um schätzungsweise 20 bis 25 Prozent fallen lassen.»
Aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik kommen daher Appelle an die Aussenhändler, neue Märkte zu erschliessen müssen, um weniger abhängig von den USA werden. Waren im Wert von gut 161 Milliarden Euro verkauften die Unternehmen 2024 in den Vereinigten Staaten - so viel wie in keinem anderen Land. Das entspricht rund zehn Prozent der gesamten Exporte. Diese Alternativen könnten die Exporteure nun verstärkt in Angriff nehmen:
Europäische Union
Hier schlummern noch grosse Potenziale. «Im EU-Binnenmarkt bestehen zwar keine Zölle, aber immer noch viele Handelshemmnisse, die Kosten verursachen und auf den Absatz drücken», betont die Unternehmensberatung Deloitte. So gibt es unterschiedliche Rechtspraktiken, verschiedene regulatorische Anforderungen und nicht harmonisierte Vorschriften in den 27 Mitgliedsländern. Die Exporte der deutschen Industrie in die wichtigsten europäischen Märkte könnten ein deutlich höheres, in manchen Ländern doppelt so starkes Wachstum verzeichnen, würden bestehende Handelshemmnisse wegfallen. Bei einem vollständigen Abbau der Hürden könnten etwa die Exporte der deutschen Industrie in den grössten europäischen Absatzmarkt Frankreich bis 2035 um durchschnittlich 3,9 Prozent pro Jahr wachsen. «Der EU-Binnenmarkt ist ein schlafender Riese für die deutsche Industrie», sagt Deloitte-Experte Oliver Bendig. «Angesichts zunehmend protektionistischer Tendenzen im Welthandel kann die Industrie in Deutschland einen Wachstums-Boost aus Brüssel gut gebrauchen.»
Mercosur
Greifbar ist ein Deal mit der lateinamerikanischen Mercosur-Gruppe: Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay. Ein Handelsabkommen wurde nach jahrzehntelangen Verhandlungen im Dezember 2024 von beiden Seiten unterzeichnet. Es ist aber noch nicht in Kraft, da alle EU-Staaten zustimmen müssen. Durch ein Freihandelsabkommen mit der EU würde die grösste Handelszone der Welt entstehen, mit mehr als 720 Millionen Menschen. Sie würde fast 20 Prozent der Weltwirtschaft und mehr als 31 Prozent der globalen Warenexporte abdecken. Ökonomen zufolge könnte ein Deal jährlich Zölle im Volumen von vier Milliarden Euro beseitigen. «Brasilien ist hier der interessanteste Markt, zumal hier auch traditionell deutschen Unternehmen vor Ort sind», sagt der Chefvolkswirt der Hamburg Commercial Bank, Cyrus de la Rubia.
Indien
Der Subkontinent hat China als bevölkerungsreichstes Land der Welt abgelöst. Indien ist ein riesiger Binnenmarkt mit kräftigem Wachstum. Allein von 2015 bis 2021 nahm das Bruttoinlandsprodukt um fast ein Drittel zu, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) ausgerechnet hat. Für das laufende Jahr traut der Internationale Währungsfonds (IWF) dem Land ein Wachstum von 6,2 Prozent zu. Welches Potenzial dahinter steckt, zeigt folgende Zahl: Zwischen 2019 und 2024 sind die deutschen Exporte nach China von 96 auf 90 Milliarden eingebrochen. «Im gleichen Zeitraum sind unsere Exporte nach Indien von elf auf 16 Milliarden Euro gestiegen», sagt IW-Experte Jürgen Matthes. «Allein mit Indien konnten wir den Verlust der Exporte nach China weitgehend kompensieren, und das sogar ohne Freihandelsabkommen.»
Die EU bemüht sich bereits um ein Wirtschaftsabkommen mit Indien, «was sich aber offensichtlich als sehr schwierig gestaltet», sagte Ökonom de la Rubia. «Indien ist von den Fundamentaldaten einschliesslich seiner jungen Bevölkerung ein überaus interessanter Markt, gehört allerdings auch zu den komplexesten.»
Indonesien
Potenzial sehen Experten auch in Indonesien, das mit mehr als 283 Millionen Einwohnern grösste muslimische Land der Welt. Es dürfte ebenfalls deutlich schneller wachsen als die Weltwirtschaft: Der IWF rechnet für das laufende Jahr mit einem Anstieg des Bruttoinlandsproduktes um fast fünf Prozent. Die Regierung in Jakarta strebt in den kommenden Jahren ein Plus von mindestens fünf Prozent an.
Chancen bieten sich deutschen Unternehmen etwa durch Infrastrukturvorhaben und grossindustrielle Projekte - hier sind sie mit ihrer Expertise weltweit gefragt. Im bilateralen Warenhandel zwischen Indonesien und Deutschland ist noch viel Luft nach oben: 2024 waren es sieben Milliarden Euro. «Indonesien hat viel unausgeschöpftes Potenzial», sagte Experte Oliver Döhne von der bundeseigenen Fördergesellschaft Germany Trade and Invest (Gtai). «Zwar ist das Land wegen seiner Handelshemmnisse und Intransparenz schwer zugänglich. Firmen, die einmal diese Eintrittshürden genommen haben, sind dann aber mit wenig Konkurrenz konfrontiert.»
Vietnam
Für viele Investoren gilt Vietnam seit einigen Jahren als besonders attraktiv. Der mit fast 100 Millionen Einwohnern gar nicht so kleine Nachbar von China lockt mit gut ausgebildeten Arbeitnehmern neue Investoren an. Das asiatische Land wächst ebenfalls rasant: Der IWF rechnet in diesem Jahr mit einem Plus von 5,2 Prozent.
Die Gtai erwartet spätestens 2026 eine neue Investitionswelle in erneuerbare Energien wie Windparks. «Deutsche Firmen haben Projekte vorbereitet und stehen in den Startlöchern», sagt Gtai-Expertin Mareen Haring. Die deutschen Exporte nach Vietnam wuchsen im vergangenen Jahr um 5,6 Prozent auf knapp vier Milliarden Euro, die Importe aus Vietnam sogar um mehr als elf Prozent auf gut 15 Milliarden Euro.
(Reuters)