Als der Zug in Verona eintrifft, dudeln Vivaldis "Vier Jahreszeiten" aus dem Lautsprecher am Bahnsteig, der gleich neben dem Campanile und der berühmten Arena liegt. Paris ist nur einen Steinwurf entfernt, nach Luxemburg und Grenada sind es lediglich ein paar Minuten, auch Oxford war noch nie so nah. Wohl nirgends auf der Welt ist Europa so vereint wie im südchinesischen Dongguan.

Hier, auf 1,4 Millionen Quadratmetern, erstreckt sich der neue Campus von Huawei, dem grössten Technologiekonzern des Landes. Er ist zwölf europäischen Universitätsstädten nachempfunden, jede mit unterirdischem Parkhaus, Convenience Stores und Restaurant, nebeneinandergequetscht und verbunden mit einer acht Kilometer langen Eisenbahnstrecke und Zügen der Jungfraubahnen. Auch die Universität Fribourg ist hier nachgebaut: "Sie simuliert die Ruhe von Freiburg", begründet Huawei die Auswahl.

Die grauen Hochhäuser von Quingdong, die sich am Horizont türmen, scheinen da aus einer anderen Welt. Letztes Jahr wurde der Campus eröffnet, er bietet Platz für 25 000 Mitarbeiter und kostete 1,3 Milliarden Euro. Er ist der ganze Stolz von Huawei.

Held oder Schurke?

Huawei, das steht für 5G, das mobile Zeitalter, das Internet der Dinge, die Zukunft: Kein Konzern auf der Welt baut mehr Telefon- und Datennetze, keiner ist erfindungsreicher auf diesem Gebiet. Huawei, das steht für coole Smartphones: Vor acht Jahren war die Firma auf dem Markt ein Niemand, letztes Jahr verkaufte sie mit 206 Millionen Stück erstmals mehr Handys als Apple, und inzwischen kann auch Weltmarktführer Samsung den Atem im Nacken spüren.

Hier in Dongguan pulsiert das Gehirn der Genialität.

Hier in Dongguan schlägt das Herz des Bösen.

Je nach Sichtweise.

Der chinesische Telekomgigant ist in einen Showdown hineingeraten, bei dem nicht klar ist, wer der Held ist und wer der Schurke. US-Präsident Trump hat Huawei zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt. Der Konzern spioniere seine Kunden auf der ganzen Welt aus, lautete der Vorwurf zunächst, später: Der chinesische Staat spioniere mittels Huawei-Geräten, die dafür eine geheime Hintertür besitzen. Was auch immer durch die Telekomnetze oder die Datenleitungen der Firmen fliesse, lande direkt im Hauptquartier der Kommunistischen Partei in Peking, so die US-Behörden. Und im Ernstfall könne die KP mit einem Knopfdruck alle Huawei-Netze rund um die Welt stilllegen, denn per Gesetz muss jede chinesische Firma den nationalen Sicherheitsbehörden Zugang geben zu kritischen Infrastrukturen. Deswegen darf keine US-Firma mehr mit Huawei zusammenarbeiten oder die Firma beliefern. Ein schwerer Schlag für das Unternehmen, das auf US-Technologie – etwa Chips von Intel, Software von Google oder Microsoft – angewiesen ist.

Im Mai erliess Trump den Erlass, zweimal wurden die Sanktionen in der Zwischenzeit verschoben, nun sollen sie am 19. November in Kraft treten. Bereits jetzt haben zahlreiche US-Firmen ihre Lieferungen reduziert. In verschiedenen Ländern kündigten die Carrier an, Huawei-Hardware auszutauschen.

"Nichts von den Vorwürfen ist wahr", sagt Walter Ji, Europachef von Huawei. Er sieht die Sanktionierung seines Konzerns als Kollateralschaden des US-chinesischen Handelskrieges. Trump hat die Finanzchefin von Huawei, eine Tochter des Firmengründers Ren Zhengfei, in Kanada verhaften lassen. Gegen Zahlung einer Millionenkaution setzten die Behörden sie unter strengen Auflagen auf freien Fuss, bis über ihre Auslieferung in die USA entschieden ist. Nicht auszuschliessen, dass der erratische US-Präsident von Huawei wieder ablässt. Viel wahrscheinlicher aber ist, dass Trump ein Jahr vor den Wahlen Stärke demonstrieren will und die Situation weiter eskalieren lässt.

Schaden in der Schweiz

Der Konflikt erschüttert auch die Schweiz. 350 Mitarbeiter beschäftigt der Konzern hier. Das Fixnetz der Swisscom basiert auf Huawei-Technologie, das Fix- und das Mobilfunknetz von Sunrise sind made in China, auch Salt und UPC benutzen einzelne Huawei-Komponenten. Der politische Wirbel hat der Firma auch hierzulande geschadet. "In den ersten zwei, drei Wochen waren die Endkunden verwirrt, das hat uns kurzzeitig einen signifikanten Umsatzrückgang beschert", sagt Ji. "Als wir klarstellten, dass sich vorerst nichts ändert und wir der Qualität und dem Service verpflichtet bleiben, haben wir das Vertrauen schnell zurückgewonnen. Jetzt haben wir uns fast erholt."

Die Schweizer Carrier lassen sich – anders als manche Gegenparts in England oder den USA – nicht von Trump beeindrucken und halten an Huawei fest. Und auch aus Bundesbern ist nach einzelnen, verpufften Vorstössen kein nennenswerter politischer Druck mehr zu erwarten.

 

 
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Eineinviertel Stunden geht die Fahrt auf der gebührenpflichtigen Autobahn, auf der sich endlose Kolonnen von Lastern reihen, neben chinesischen Kleinwagen, japanischen Mittelklassefahrzeugen und deutschen Luxusautos. Auf dem Weg nach Shenzhen, direkt an der Grenze zu Hongkong gelegen, passiert man Dutzende echte Polizeiautos und ebenso viele Attrappen, jeder Meter Fahrt wird aufgezeichnet von den allgegenwärtigen Überwachungskameras. Das Hauptquartier von Huawei liegt etwas nördlich von Shenzhen, abgeschottet hinter Eisenzäunen und Steinmauern, an den Toren Schlagbäume und Sicherheitsleute. Knapp 40 000 Angestellte arbeiten auf dem zwei Quadratkilometer grossen Gelände. Es gibt eigene Sportplätze, Hotels, sogar eine Universität und ein Spital.

"Als ich 1993 als Softwareentwickler anfing, waren wir etwas über 300 Mitarbeiter mit einem Umsatz von zehn Millionen Dollar", erinnert sich Eric Xu, der sich "Schü" spricht, aber eigentlich Xu Zhijun heisst und inzwischen Chairman ist (der Posten rotiert alle sechs Monate zwischen drei Personen). "Aus meiner Sicht konnte die Firma jeden Moment zusammenbrechen." Stattdessen wuchs sie kräftig. 2004, an der ITU Telecom World in Genf, folgte der Schritt auf die Weltbühne. "Wir hatten keine Ahnung, dass aus der Firma einmal das werden würde, was sie heute ist", so Xu.

Heute, das sind 180 000 Mitarbeiter, 105 Milliarden Dollar Umsatz und 8,6 Milliarden Dollar Gewinn. Huawei ist von null innerhalb von 32 Jahren klarer Weltmarktführer bei Netzwerkausrüstung geworden und die Nummer zwei bei Smartphones. Geholfen haben dabei das gewaltige wirtschaftliche Wachstum Chinas, der abgeschottete Heimmarkt und ein 30-Milliarden-Kredit der staatlichen China Development Bank im richtigen Moment. Denn die Regierung betrachtet Huawei als Speerspitze in ihrer jahrzehntelangen technologischen Aufholjagd gegenüber dem Westen.

 

 
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Eine Art Genossenschaft

Obwohl die Firma nicht in Staatsbesitz ist: Huawei ist formell eine Art Genossenschaft, bei der die Mitarbeiter über eine Phantomaktie beteiligt werden – chinesische Angestellte deutlich stärker als ausländische. Ein Entscheidungsrecht ist damit nicht verbunden. Beim Austritt muss man die Anteile zurückgeben, bei der Pensionierung darf man sie behalten und kassiert weiterhin Dividende. Gehandelt werden die Papiere nicht. Wer genau wie viel besitzt, ist von aussen nicht ersichtlich. Einzig, dass Gründer Ren Zhengfei noch 1,14 Prozent der Aktien und für strategische Entscheide ein Vetorecht besitzt, ist bekannt.

Ein Börsengang würde Transparenz bringen. Doch das ist kein Thema – angesichts der jüngsten Ereignisse erst recht nicht: "Wenn wir eine börsengehandelte Firma wären, was wäre passiert, als wir auf die Sanktionsliste gerieten?", fragt Xu rhetorisch. Und er fürchtet um die Motivation der Angestellten im Falle eines Börsenganges: "Wir möchten, dass unsere Mitarbeiter ihren Wohlstand langsam aufbauen", sagt er. "Wenn sie über Nacht reich werden, verlassen die Kernteams die Firma, manche Mitarbeiter sogar das Land. Das haben wir bei allen anderen chinesischen Firmen gesehen."

So bleibt die Geheimniskrämerei – und damit der Vorwurf im Raum, der Konzern sei am Ende doch in der Hand der Regierung. Zumal Gründer Ren Zhengfei vor seiner Unternehmerkarriere ein höherer Offizier in der Volksbefreiungsarmee war und heute mit den Parteigranden einen engen Umgang pflegt.

Auch sonst macht es die Firma einem nicht leicht, sie zu lieben. Immer wieder werden Vorwürfe laut: Mitarbeiter würden Informationen über Geschäftspartner und Beamte sammeln und diese an die chinesische Botschaft weiterleiten, berichtete kürzlich ein tschechischer Journalist. In Polen wurde zu Beginn des Jahres ein Mitarbeiter wegen Spionageverdachts festgenommen. Der Konzern soll ausserdem industrielle Geheimnisse von T-Mobile USA gestohlen und die Justiz behindert haben. Am Schweizer Huawei-Sitz in Dübendorf wurden 2013 neun Personen festgenommen, die ihrer Arbeit ohne Bewilligung nachgegangen sein sollen, und zehn weitere verzeigt, weil ihre Genehmigungen abgelaufen waren. Die Liste liesse sich noch lange fortsetzen.

Unbewiesene Vorwürfe

Doch das sind alles Peanuts gegenüber den Beschuldigungen von Trump, in Huawei-Geräten gebe es Hintertüren. Deren Existenz bestreitet die Firma natürlich auf das Entschiedenste: Datenschutz habe Priorität, alle Datenschutzregeln "werden eingehalten und durch interne Richtlinien ergänzt", heisst es. Die USA konnten ihren Vorwurf bislang nicht beweisen. Aber hätten die Behörden etwas Konkretes in der Hand, sie hätten es längst an die Presse gegeben – das würde bei Huawei mehr Schaden bewirken als jeder politische Druck.

Der frühere Chef des britischen Geheimdienstes GCHQ, Robert Hannigan, sagt wiederum, die britischen Behörden hätten seit 2010 Zugriff auf den Programmcode von Huawei und sie hätten bei regelmässigen Prüfungen nichts Verdächtiges gefunden. "Diese Hexenjagd entbehrt jeglicher Faktenbasis", sagt auch der CEO eines grossen Carriers, der ungenannt bleiben will.

 

 
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Was man hingegen auch dank Edward Snowden weiss: Auch die USA spionieren, bei Genfer Privatbanken ebenso wie der Swisscom, auf dem BlackBerry der deutschen Kanzlerin ebenso wie in den Laptops von Uno-Mitarbeitern. Bekannt sind auch Fälle, in denen der Geheimdienst Geräte des US-Herstellers Cisco auf dem Weg zum Kunden abfing, mit Spionagetechnik modifizierte und erst dann auslieferte. Und der nach 9/11 erlassene Patriot Act erlaubt es der National Security Agency (NSA) bis heute, bei allen US-Firmen auf Nutzer- und Kundendaten zuzugreifen, ohne die Betroffenen darüber zu informieren.

Für die Regierungen, die Telekomanbieter und ihre Kunden stellt sich so eigentlich nur die Frage, von wem sie sich im Zweifelsfall lieber ausspionieren lassen wollen: von einer lupenreinen Diktatur? Oder von einer Demokratie, die auch nicht mehr das ist, was sie mal war?

Rekordhalter mit 2395 Patent-Anmeldungen

Im fünften Stock des Hauptquartiers in Shenzhen, einem grossen Stahlbau mit geschwungener Glasfassade, ist das Fotografieren streng verboten. In Vierer-Bürozellen sitzen knapp 300 Mitarbeiter Rücken an Rücken, jeder hinter zwei grossen Bildschirmen. Sogar die Stühle tragen das Firmenlogo mit der stilisierten Chrysantheme. Hier befindet sich eines der 14 Entwicklungszentren von Huawei.

 

 
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Stolz führen die Forscher vor, wie sie künstliche Intelligenz nutzen, um die Qualität von Handyfotos zu verbessern, um Strom beim Betrieb des Mobilfunknetzes zu sparen oder selbstfahrende Autos zu steuern. Huawei ist ein Gigant, wenn es um Forschung und Entwicklung geht: Knapp 15 Milliarden Dollar gab die Firma dafür letztes Jahr aus, Platz fünf weltweit unter den Konzernen. Nächstes Jahr sind 20 Milliarden vorgesehen.

Am Europäischen Patentamt war Huawei 2018 mit 2395 Anmeldungen Rekordhalter. Jedes sechste 5G-Patent weltweit geht auf das Konto des Konzerns. Auch weil er in Privatbesitz ist und damit nicht den vierteljährlichen Renditeerwartungen der Investoren ausgesetzt ist: "Welcher Aktionär gibt einem das Geld für ein unsicheres Zehn-Jahres-Projekt?", fragt Felix Kamer, in der Schweiz zuständig für das Carrier-Geschäft.

Rund um die Welt forschen über 80 000 Ingenieure für Huawei – knapp 30 in Zürich. "Hauptsächlich weil die Schweiz innovativ ist, stabil und politisch neutral", begründet Chairman Xu die Wahl. Nun sollen zwei neue Forschungszentren in Zürich und Lausanne mit insgesamt 1000 Stellen hinzukommen, weitere Standorte werden geprüft. 20 bis 30 Forschungsthemen will Huawei für sie definieren, etwa Computerarchitektur, Chipdesign oder Materialwissenschaft. "Obwohl die Schweiz ein kleiner Markt ist, hat sie ein riesiges Potenzial für Technologien", sagt Walter Ji. "Und wegen des guten Bildungssystems gibt es viele junge Talente."

Die will er nun gewinnen, was angesichts der gegenwärtigen Situation und der harten Konkurrenz von Google & Co. nicht einfach werden wird. Die guten Karrierechancen, die zahlreichen Forschungsfelder und die zur Verfügung stehenden Ressourcen führt Ji als Rekrutierungsargumente für seine Firma an. In den USA hingegen schliesst sie ihre Entwicklungszentren: 850 Forscher im ganzen Land müssen sich neue Jobs suchen.

Kurven steil nach oben

Das Sport- und Kulturzentrum in Dongguan ist gut gefüllt. Anfang September fanden hier Gruppenspiele der Basketball-WM statt, jetzt haben 5000 Entwickler in den Sitzreihen Platz genommen. Jubel brandet auf, als Richard Yu unter martialischer Musik die 50 Meter breite Bühne betritt. Enthusiastisch rattert der Chef der Konsumentensparte die jüngsten Erfolgszahlen herunter, eingerahmt von Kurven, die steil von unten links nach oben rechts ziehen. Das Geschäft mit Laptops habe sich im ersten Halbjahr verdreifacht, das mit Wearables wie intelligenten Uhren verdoppelt, der Smartphone-Absatz sei um immerhin 24 Prozent gestiegen. Aber er sagt auch: "Wir hätten besser sein können. Ohne die Sanktionen wären wir bei den Smartphones jetzt weltweit die Nummer eins."

Es herrscht eine Steve-Jobs-Atmosphäre, nur das "One More Thing" kommt statt am Schluss gleich als zweiter und wichtigster Programmpunkt: Unter dem Jubel des Publikums – offensichtlich befinden sich viele Angestellte darunter – präsentiert Yu ein eigenes Betriebssystem namens Harmony. Es soll auf den unterschiedlichsten Geräten laufen, von Uhren über Laptops bis zum Autocockpit. Vor allem soll es die Abhängigkeit von Google brechen. "Wir haben schon 2017 angefangen, daran zu arbeiten", so Yu, "es würde uns nur ein paar Tage kosten, das System für unsere Smartphones zu adaptieren."

 

 
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Das freilich ist nur die halbe Wahrheit: Ohne eigene Apps ist es wertlos. Auf Android gibt es fast vier Millionen Anwendungen. In diese Nähe muss Harmony erst kommen, will es sich als valable Alternative etablieren. Sollte das gelingen, hätte Trump mit seinen Sanktionen geholfen, Huawei noch stärker und zur echten Bedrohung von Apple und Google zu machen. Aber es ist eine Herkulesaufgabe, die Huawei da schultert – und an der schon ganz andere gescheitert sind: BlackBerry etwa, Nokia oder Microsoft. Sogar Weltmarktführer Samsung schaffte es nicht, sein Betriebssystem Tizen als Smartphone-Alternative zu Android zu etablieren. Und selbst wenn es gelingt, wird es lange dauern, ein reifes Ökosystem aufzubauen – Eric Xu rechnet optimistisch mit drei bis fünf Jahren (siehe Interview unten).

Deshalb hat Huawei gerade ein Friedensangebot lanciert: alle 5G-Patente und Quellcodes an Wettbewerber, auch westliche, zu verkaufen. Der oder die Käufer hätten dann Transparenz über die Existenz der Hintertüren und könnten die Technologie nach eigenem Gusto weiterentwickeln, ohne Einfluss des chinesischen Staates. Huawei hätte das gleiche Recht. Viele Fragen bleiben offen: Welcher Konkurrent hätte überhaupt Interesse, auch aus Stolz auf seine eigene Technologie? Wer kann sich das leisten bei einem Patentwert, der mehrere Dutzend Milliarden Dollar betragen dürfte? Würde das die Vormachtstellung von Huawei bei den Carriern überhaupt brechen? Es wäre ein gewaltiger Schritt, den es in der Technologiegeschichte so bisher nicht gab. Aber der Vorschlag zeigt auch, wie verzweifelt Huawei ist.

Zwei Schichten pro Tag

An den Wänden des Produktionswerkes in Shenzhen hängen Motivationsplakate: "Persist in self-improvement", steht dort auf Englisch und Chinesisch, "The biggest bankruptcy is despair, while the greatest asset is hope". Auf 1,4 Quadratkilometern arbeiten hier 20 000 Mitarbeiter. Bei Schichtbeginn treten sie in Zweierreihen zum Appell an wie beim Militär und laufen im Gänsemarsch in die Hallen ein. Es herrscht ein 20-Stunden-Betrieb: zwei Schichten à acht Stunden, zudem hängt jeder zwei Überstunden dran, die eher weniger als mehr freiwillig sind. Alle zwei Stunden gibt es zehn Minuten Pause, plus 90 Minuten für das Mittagessen. Das Ganze während sechs Tagen die Woche.

"Wir Chinesen arbeiten sehr hart", sagt Charles Quiang, als er durch das Werk führt. Die Fotos jener 61 Angestellten, die am härtesten arbeiten, hängen an den Wänden. Ein paar Meter weiter befindet sich eine Wunschwand, an der die Angestellten bunte herz- oder blumenförmige Post-its angebracht haben: "Go, Huawei, for 5G in Brussels", steht da, "I love my job", aber auch "Urs Lehner of Swisscom to sell more Huawei Products!". Lehner ist im weit entfernten Bern für das Geschäftskundensegment zuständig.

Hier in Shenzhen wird das P30 Plus hergestellt, der Verkaufsschlager unter Huaweis Smartphones. Die winzigen Komponenten des Handys, manche mit dem Auge kaum sichtbar, kleben auf Bändern, die aussehen wie Super-8-Filmrollen, und werden vollautomatisch in die rund zwei Dutzend Fertigungsroboter eingespielt. Menschen gibt es nur wenige an der 120 Meter langen Produktionsstrasse: 17 Operators, die je nach Funktion unterschiedlich farbige Käppis tragen, laden die Bänder nach, prüfen mit geschultem Blick die Verarbeitung oder packen die fertigen Smartphones ein. Bis jetzt, am frühen Vormittag, haben sie an dieser Produktionsstrasse 101 Geräte hergestellt, davon 98 in verkaufsfähiger Qualität. Der geplante Output für den Tag beträgt 2800 Stück. Es gibt zehn solcher Produktionsstrassen in dieser Halle. Und 60 Hallen auf diesem Gelände. Man rechne.

Vor sechs Jahren brauchte es noch 86 Mitarbeiter pro Strasse. Ihre Zahl wird weiter sinken. Trotzdem will Huawei mehr Leute anstellen, weil der Output weiter steigt. Zumindest war das der Plan. Gut möglich, dass Trump ihn nun vereitelt. Verlängert die US-Regierung das Moratorium nicht noch einmal, werden die Sanktionen Huawei ab 19. November mit voller Wucht treffen. Letztes Jahr kaufte der Konzern für 11 Milliarden Dollar Hard- und Software in den USA ein, rund ein Drittel des gesamten Beschaffungsvolumens. Dafür wird er neue Lieferanten finden müssen – sofern das möglich ist.

Einen ersten Vorgeschmack konnte man Ende September erleben, als Huawei in München ihr neuestes Smartphone vorstellte, das Mate 30 Pro. Weil Google die Unterstützung bereits verweigert, wird es nur mit der Open-Source-Variante von Android ausgeliefert, einer kostenlosen und weniger leistungsfähigen Version. Wichtige Google-Apps wie YouTube, Maps oder Gmail fehlen. Ob der Endkunde sie nachträglich installieren kann, ist unklar. Huawei hat die Markteinführung des Geräts in Europa daher erst mal verschoben. Ob es ausserhalb Chinas – wo die Google-Dienste sowieso nicht zugelassen sind – jemals viele Käufer finden wird, ist fraglich. Und bei jeder weiteren Neuvorstellung droht Huawei in Zukunft das gleiche Problem. Es ist gravierend: 40 Prozent der Smartphones mit einem Wert von rund 20 Milliarden Dollar verkauft die Firma ausserhalb Chinas. Bisher.

Insgesamt 30 Milliarden Umsatz werden die Sanktionen Huawei dieses und nächstes Jahr kosten, erwartet Gründer Ren Zhengfei. Verluste werde die Firma trotzdem nicht machen. Auch Chairman Eric Xu gibt sich kämpferisch. "Wir werden überleben", sagt er.

Dieser Text erschien in der Oktober-Ausgabe 10/2019 der BILANZ und bei der "Handelszeitung" unter dem Titel "Huawei: So tickt der umstrittenste Konzern der Welt".