Nun hat der chinesische Botschafter in Paris, Lu Shaye, in einem TV-Interview so verwirrende Äusserungen zur staatlichen Unabhängigkeit der früheren Sowjetrepubliken von sich gegeben, dass die chinesische Diplomatie sichtlich ins Schlingern geriet. Dabei war Chinas Führung gerade dabei, international eine aktivere Rolle einzunehmen, etwa zwischen den Erzfeinden Iran und Saudi-Arabien zu vermitteln und einen Friedensplan zur Ukraine vorzulegen. Doch Lu Shaye schürte Misstrauen, wie ernst es Peking mit dem Völkerrecht wirklich meint.

Und die Lage war dabei offenbar so neu, dass das chinesische Aussenministerium Tage brauchte, um sich zu einer Klarstellung durchzuringen und den Schaden zu begrenzen: Ausdrücklich bekannte sich die Sprecherin des Ministeriums am Montag zur Anerkennung der Unabhängigkeit der Ex-Sowjetrepubliken und damit auch der Ukraine. Sie betonte sogar, dass China eines der ersten Länder gewesen sei, die diese Staaten anerkannt habe. Da war das Kind aber schon in den Brunnen gefallen.

Chinas Ukraine-Vermittlervorstoss diskreditiert

Denn Chinas Rolle im Ukraine-Krieg wird im Westen und der Ukraine ohnehin mit Skepsis gesehen, weil die Führung in Peking zwar das Völkerrecht anerkannt hat, aber Russlands Überfall auf das Nachbarland partout nicht kritisieren will. Tatsächlich hat der China-Experte Moritz Rudolf vom Paul Tsai China Center der Yale Law School mehrfach beschrieben, dass im chinesischen Denken das Konzept "legitimer Sicherheitsinteressen" an Bedeutung gewinnt, das etwa dem russischen Denken in Einflusssphären ähnelt. Im Fall der Ukraine könnte sich China damit aus der selbst ernannten Rolle als möglicher Vermittler herauskatapultieren, wenn Zweifel bleiben, dass China die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland anerkennen könnte - was es bisher nicht getan hat. Die Sprecherin des Aussenministeriums betonte nun, dass man die Ukraine natürlich anerkenne. "Es ist allen klar, dass nur souveräne Länder UN-Mitgliedstaaten werden können", wies sie alle Zweifel zurück.

EU-Staaten im Baltikum verprellt

Besonders heftig fielen die Reaktionen im Baltikum aus. Das ist wenig verwunderlich. Dort sind die Ängste der einst zur Sowjetunion gehörenden Staaten gross, dass Russland sie wieder angreifen könnte. Lu Shayes Bemerkung, dass es angeblich gar keinen völkerrechtlichen Status der Unabhängigkeit gebe, schürt die Zweifel, dass zumindest der Hardliner-Teil in der Pekinger Führung denkt wie die Machthaber im Kreml. Dabei muss China gerade bei den baltischen Staaten um Verständnis für seine Taiwan-Politik und die Ein-China-Politik kämpfen, für die etwa Litauen immer weniger Verständnis hat. Die von den baltischen Staaten ausgehende, ungewöhnliche Forderung nach einer Ausweisung des chinesischen Botschafters aus Frankreich zeigt, wie gross die Sorgen dort sind.

Gewollt oder ungewollt hat der Botschafter zudem mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron nach Einschätzung von EU-Diplomaten ausgerechnet jenen EU-Staatschef unter Druck gesetzt, der noch am ehesten an Chinas Vermittlungsbereitschaft im Ukraine-Krieg geglaubt hat.

Kollateralschaden in Zentralasien

Aber der grösste diplomatische Schaden könnte in Zentralasien sein. Es ist erstaunlich, dass man dort bisher geschwiegen hat", sagt Beate Eschment, Zentralasien-Experte des Zentrums für Osteuropa und internationale Studie (Zois), zu Reuters. Dabei stellen die Äusserungen Lu Shayes auch die Souveränität Kasachstan, Usbekistans, Tadschikistans, Turkmenistans und Kirgistans infrage - alles Länder, um deren Kooperation sich China sehr bemüht. Eschment vermutet, dass etwa Kasachstan bewusst nicht reagieren wollte und erst einmal auf das öffentlich ausgesprochene chinesische Schutzversprechen baut. Gefürchtet wird in Kasachstan mit seiner russischen Minderheit im Norden nämlich eigentlich eher eine Aggression durch Russland. China galt bisher durchaus als ein Gegengewicht gegenüber zu engen Umarmungsversuchen Moskaus. Ähnlich sieht es die China-Expertin Marina Rudyak von der Universität Heidelberg. "Meine Vermutung ist, dass die Äusserungen und die Reaktionen ziemliche Panik in Peking ausgelöst haben," sagt sie zu Reuters und verweist auf massive chinesischen Öl- und Gasinteressen in Zentralasien. Rudyak vermutet, dass China nun hinter den Kulissen hektisch versuche, die Regierungen zu beruhigen.

Bleibt die Frage, wie der Westen reagieren sollte. Die öffentliche Aufforderung zum Abzug des Botschafters hält Rudyak für kontraproduktiv. "China reagiert besser auf Hinweise hinter verschlossenen Türen als auf Symbolpolitik", sagt sie. Chinas Führung versucht den Schaden auch dadurch zu minimieren, indem sie von "persönlichen Äusserungen" des Botschafters spricht. Das eröffnet die Möglichkeit, das Problem Lu Shaye bald mit einer Versetzung zu beseitigen.

(Reuters)